Atlantic City, USA. Ein Mann mit dubiosen Beziehungen in die Unterwelt setzt seine Frau beim Pokerspiel ein, verliert und nötigt sie, mit den beiden Gewinnern zu schlafen. Die Gruppenvergewaltigung dauert bis zum Morgengrauen. Als das Opfer ihren Bruder, einen Polizisten aus New Jersey zu Hilfe ruft, lässt dieser seine Beziehungen zur Mafia spielen. Denn eins ist klar: Der Mann, der seine Schwester um ihre Ehre gebracht hat, muss aus dem Weg geräumt werden.

Der ihm gegenübersitzende Mafioso kommt zum selben Ergebnis, aber nicht aus moralischen Erwägungen und schon gar nicht geht es um das Unrecht, das der Frau zugefügt wurde. Aus Sicht des organisierten Verbrechens geht es um etwas anderes: Ein Mann, der, wie oben geschildert, mit seiner Frau umgeht, der stellt auch als Geschäftspartner ein unkalkulierbares Risiko dar. Würde sich so jemand loyal verhalten, wenn die Polizei erdrückende Beweise gegen ihn in der Hand hätte? Wohl eher nicht. Ein Killer wird beauftragt und mit einem Genickschuss ist die Angelegenheit erledigt.

Das ist nur eine der vielen Geschichten, die der Autor und seit rund 20 Jahren wegen Todesdrohungen unter Polizeischutz stehende Anti-Mafia-Aktivist und Autor des Weltbestsellers „Gomorrha“, Roberto Saviano, in seinem Buch „Treue. Liebe, Begehren und Verrat – Die Frauen in der Mafia“ erzählt.

Die Vorstellung einer Liebesheirat, das macht er deutlich, ist deren Angehörigen zwar bekannt, doch wird sie von den Familienoberhäuptern nach wie vor als bürgerliche Tradition abgelehnt. Eine Frau, so die offenbar bis heute in diesen Verbrecherkreisen herrschende nutzenorientierte Vorstellung, müsse etwas einbringen und dürfe nicht einfach dem Erstbesten überlassen werden, der sie aus einer Laune, einer Schwärmerei oder gar Liebe zu nehmen bereit ist.

Man agiert aristokratisch und bleibt, was das Knüpfen verwandtschaftlicher Beziehungen betrifft, in der Regel unter sich – auf Sizilien ebenso wie auf der anderen Seite des Atlantiks.

Wir erfahren von einer Frau, die sich nach der zweiten Fehlgeburt umbringt, weil sie es nicht verkraftet, ihrem geliebten Mann, einem skrupellosen Killer, keinen Sohn geschenkt zu haben.

Selten an Geschäften beteiligt

„Für die Cosa Nostra“, schreibt Saviano, „ist die Frau in erster Linie Gebärmaschine. In seltenen Fällen sind Frauen aktiv an Geschäften beteiligt.“ Wirkliche Macht erlangt die Gattin eines Bosses nur, wenn sie ihren für längere Zeit im Knast einsitzenden Mann in seinen Geschäften vertritt. Was die Rollenerwartungen an die Geschlechter betrifft, gibt es in der italienischen Unterwelt regionale Unterschiede zwischen der Cosa Nostra, also der sizilianischen Mafia, und der in Neapel sowie in Kampanien beheimateten Camorra.

Während von einem Anführer der Casa Nostra erwartet wird, dass er sich seiner Ehefrau gegenüber loyal verhält und nicht mit seinen Liebschaften prahlt, stellt ein Boss der Camorra sein Führungscharisma nicht zuletzt dadurch unter Beweis, dass er ganz offen sexuelle Beziehungen zu mehreren Frauen unterhält. Aus dem Rahmen fällt eine Geschichte der Chefin einer zwölfköpfigen Frauenbande in Chile, die sich im Gefängnis in eine andere Anführerin verliebt und nach einer kurzen Karriere als Tik-Tok-Influencerin von einem Killer im Auftrag einer anderen Narcos-Bande auf offener Straße ermordet wird.

Der Leser erfährt, wie raffiniert Morde geplant werden müssen, wenn die potenziellen Opfer auf der Hut sind und von den strengen Regeln wissen, denen die traditionsbewusste Mafia ihre Bluttaten zuweilen immer noch unterwirft: Beispielsweise, dass niemals ein Kind bei einer Tötung zugegen sein darf.

So genau wie Saviano die Planung der Mordkomplotte beschreibt, so drastisch sind die von ihm geschilderten Gewaltakte. Da werden Menschen die Herzen aus der Brust gerissen, kleben Schädelsplitter an einer Windschutzscheibe und wird einer Verräterin bei vollem Bewusstsein eine Flasche Salzsäure eingeflößt. In die blut- und in der Schilderung der Gefühlswelten der Akteure teilweise auch kitschgetränkten Geschichten eingestreut sind kleine, in einem nüchternen Expertenstil gehaltene Passagen. Hier wird ein wenig eingeordnet und reflektiert. Hinter den gekonnten Erzählungen dramatischer Ereignisse aus der Unterwelt erhält die Analyse des Geschehens mitunter zu wenig Raum.

Häusliche Gewalt, Zwangsheirat und Eheallianzen – in dieser nach quasi-aristokratischen Gepflogenheiten ausgerichteten Parallelwelt des organisierten Gangstertums ist das vermeintlich Private immer auch politisch und scheint das Patriarchat noch ungebrochen zu ein.

Die Mafia, so lässt sich jedenfalls dem Buch entnehmen, ist eine Institution, in der sich im Hinblick auf das Verständnis von Geschlechterrollen in den letzten hundert Jahren noch weniger verändert hat als im Vatikan.

Das ist eine wichtige Einsicht, doch durch die Art, wie er seine Geschichte erzählt, strickt Savino auch selbst am populärkulturellen Mythos mit, den die Angehörigen der Mafia heute gerne selbst über sich erzählt sehen wollen. Auf einem von ihm geschilderten Hochzeitsfest eines Clans stimmen Geigen die Filmmusik aus dem Paten an.

Roberto Saviano: Treue. Liebe, Begehren und Verrat – Die Frauen in der Mafia. Hanser, 272 Seiten, 24 Euro

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.