Omri Boehm, ein in Israel geborener Philosoph, der an der New Yorker New School lehrt, ist in Israel und den USA nur wenigen bekannt, in Deutschland hingegen ist er ein Star. Das hat wenig mit seinen Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie zu tun, viel hingegen mit seiner Kritik an der Politik Israels und überhaupt am Konzept eines jüdischen Staates, den er, selbst Jude, als „ethno-nationalistisch“ und darum illiberal ablehnt.

Dass es für Deutsche angesichts ihrer Geschichte entlastend ist, wenn ein Jude ausgerechnet dem jüdischen Staat vorwirft, einen „Ethno-Nationalismus“ zu praktizieren, ist klar. „Ethno-Nationalismus“ hat ja einen Beigeschmack von Rassismus und Chauvinismus. Aber was bedeutet „Ethno-Nationalismus“ wirklich? Eigentlich nur, dass der betreffende Staat sich als Staat eines bestimmten, sich zur Nation konstituierenden Volks versteht. Was ja bis 1945 überall in Europa die Norm war; und etwa in Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Staaten bis heute die Norm bleibt, wo man bis heute der massenhaften Zuwanderung ebenso skeptisch gegenübersteht wie das in West-Deutschland bis weit in die 1970er-Jahre, in Frankreich und Großbritannien bis weit in die 1960er-Jahre hinein der Fall war. Boehm kritisiert aber nicht Polen oder Ungarn, sondern ausgerechnet das von Feinden umzingelte Israel, die nationale Heimstätte des jüdischen Volks.

Zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald durch die US Army wurde Boehm eingeladen, eine Rede zu halten. Nicht zuletzt wegen eines Einspruchs des israelischen Botschafters in Deutschland wurde er wieder ausgeladen; die Rede, die Boehm hätte halten sollen, wurde in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. April 2025 abgedruckt. Ohnehin wurde durch die Einladung und noch mehr durch das Publikmachen des Einspruchs durch den Leiter der für die Gedenkstätte Buchenwald zuständigen Stiftung der 80. Jahrestag der Befreiung vor allem durch Diskussionen über den Zionismus, Israel und die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit dominiert.

Um es vorwegzunehmen: Der Einspruch des israelischen Botschafters zeigt sich nach Lektüre der Rede als berechtigt. Nicht nur wegen der Person Boehms, der nun einmal unter Juden wegen seiner Kritik am Zionismus und unter Antifaschisten wegen seines Pazifismus umstritten ist; sondern auch wegen des Inhalts der Rede.

Beginnen wir mit jener zentralen Stelle der Rede, die Juden in aller Welt und nicht nur Juden empören muss. Nachdem er Vergleiche des „brutalen Massakers vom 7. Oktober“ und der „Zerstörung und den Hunger in Gaza“ mit dem Holocaust als „irreführend“ abgetan hat, meint Boehm, darin stecke doch „ein Körnchen Wahrheit“. Eine Aussage, die FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube zu Recht als „eines Philosophen unwürdig“ bezeichnet hat. Als Begründung für dieses Körnchen Wahrheit bei der Gleichsetzung des Judenmords der Hamas und der Reaktion der Regierung Netanyahu dient Boehm die Unterstellung, beide würden „auf die erschütternde Tatsache verweisen, dass zweimal die vollständige Entmenschlichung von Gesellschaften nicht verhindert wurde“.

Nun weiß ich nicht, ob es richtig wäre zu sagen, dass die deutsche Gesellschaft unter der zwölfjährigen Herrschaft der Nazis „vollständig entmenschlicht“ wurde. Würde man das ernsthaft unterstellen, so gäbe es keinen Grund, gegen die Bestrafung dieser Gesellschaft (und nicht nur der Täter) durch Bombenkrieg, Vertreibung und Vergewaltigung. Ich bin immer noch der Meinung, dass diese Strafe maßlos war, auch wenn die Deutschen sie akzeptiert haben.

Ich weiß auch nicht, ob es richtig wäre, die Gesellschaft in Gaza nach zwanzig Jahren Hamas-Diktatur als „vollständig entmenschlicht“ zu bezeichnen. Sicher, die Islamisten haben alle Institutionen unterwandert und kontrolliert, durch Terror – etwa die öffentliche Hinrichtung von Menschen, denen „Kollaboration“ mit Israel unterstellt wird oder das Foltern und Ermorden von Menschen, die Proteste gegen das Regime organisiert haben – und Indoktrination, auch mithilfe der Schulen der UNRWA, die moralischen Maßstäbe vieler Menschen so weit verrückt, dass am 7. Oktober nicht nur Kämpfer der Hamas, sondern ganz normale Bürger sich am Massaker beteiligten. Dennoch scheint mir die Unterstellung, die eigentlich die von Boehm kritisierte Kriegsführung Israels rechtfertigen würde, zu weit zu gehen.

Ganz sicher bin ich, weil ich öfter in Israel gewesen bin, zuletzt vor wenigen Wochen, dass die Behauptung, Israels Gesellschaft sei „vollständig entmenschlicht“, völliger Unsinn ist. Und nicht nur, weil Woche für Woche Tausende im Zentrum Tel Avivs – unter Polizeischutz – gegen die Regierung und ihre Kriegführung und für einen sofortigen Waffenstillstand protestieren. Sondern weil selbst unter den Männern und Frauen, die als Wehrdienstleistende, Reservisten oder Berufssoldaten in Gaza kämpfen, und es sind oft genug die Kinder der Angehörigen der Elite, die in Tel Aviv demonstrieren, der Moralkodex intakt ist.

Das schließt nicht aus, dass es zu Kriegsverbrechen kommen kann, oder dass die Kriegführung insgesamt, wie der alliierte Feldzug gegen Nazi-Deutschland, mit unnötiger Härte geführt wird. Der Meinung bin ich zwar nicht, aber ich schließe nicht aus, dass ich meine Meinung ändern könnte. Doch wer behauptet, Israels Gesellschaft sei „vollständig entmenschlicht“, hat den Boden seriöser Kritik und intellektuell anspruchsvoller Diskussion verlassen.

Die Rede endet mit einer Warnung erstens vor Rechtspopulisten, zweitens aber – und dies muss jeden Antifaschisten empören – vor „neorealistischen Doktrinen“ im linken oder linksliberalen Milieu, die „Menschenwürde und Frieden als naive, edle Lügen abtun und fordern, die Macht Europas auf Kosten der Rechtstaatlichkeit auszubauen.“ Doktrinen dieser Art würden uns „ganz schnell von ‚nie wieder‘ zu ‚wieder‘ bringen.“ Wer fordert denn, die „Macht Europas“ – ach gäbe es sie nur, diese Macht! – „auf Kosten der Rechtstaatlichkeit auszubauen“? Wenn Boehm hier keine Namen nennen kann, sollte er lieber schweigen.

Tatsache ist aber, dass heute die Rechtspopulisten gerade deshalb so gefährlich sind, weil sie – wie in Frankreich 1939/40, wie in den USA 1940/41, wie Philip Roth in seinem dystopischen Roman „The Plot Against America“ schildert – Frieden mit dem Aggressor propagieren, damals Nazi-Deutschland, heute Putins Russland. Dass am Jahrestag der Befreiung Buchenwalds, die, wie auch Jürgen Kaube sarkastisch anmerkt, nicht durch das Rote Kreuz erfolgte, sondern durch die US Army, nicht die Gefahr benennt, die von einem historischen Kompromiss zwischen Donald Trump und Wladimir Putin ausgehen würde und stattdessen die Gefahr eines mächtigen, nicht an die Rechtstaatlichkeit gebundenen Europa an die Wand malt, ist weder politisch noch moralisch ernst zu nehmen.

Nach alledem mag es wenig sinnvoll erscheinen, den Rest der Rede zu besprechen, die im Wesentlichen dazu dient, die abenteuerliche These Boehms zu begründen, der Frieden sei das höchste Ideal, wichtiger etwa als die Gerechtigkeit oder die Freiheit.

Als Zeugen dienen Boehm einerseits die Propheten Israels, andererseits der deutsche Philosoph Immanuel Kant. Was die Propheten angeht, so genügt die Lektüre des so genannten Alten Testaments, um zu erkennen, dass die Propheten nicht den Frieden gepredigt haben, sondern die Unterwerfung Israels unter den Willen Gottes, der oft genug Krieg und Ausrottung seiner Widersacher gefordert hat. Selbst Jesus von Nazareth, der sich ausweislich seiner eigenen Reden als Prophet verstanden hat, sagte bekanntlich laut Matthäus: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“. Und so kam es auch.

Was Kant betrifft, so entwarf er 1795 einen Plan zum „ewigen Frieden“ – nicht zufällig nach der Festigung der Errungenschaften der Französischen Revolution. Dieser Friede könne jedoch, so der Philosoph eigentlich nur gesichert werden in einer Welt, die aus lauter demokratisch verfassten Staaten bestehe, die im Umgang miteinander Prinzipien des Völkerrechts beachteten. Warum aber befürwortete Kant einen „Staatenbund“, nicht einen globalen „Bundesstaat“ oder, wie er es ausdrückte, „Völkerstaat“? Weil für ihn selbstverständlich war, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben sollte. Kant war diesbezüglich durchaus „Ethno-Nationalist“, und seine liberale Weltordnung beruhte auf der Vorstellung, dass lauter ethnonationalistische Staaten gleichberechtigt miteinander verkehren könnten, während in einem „Völkerstaat“ die größeren Völker die kleineren unterdrücken würden.

Man kann die Zeitbedingtheit der Kant’schen Ideen durchaus erkennen, die zu einer Zeit entstanden, da sich eigentlich nur die Franzosen zu einer ethnonationalen Republik vereint hatten, während alle anderen Europäer Untertanen diverser dynastisch organisierten Gebilde waren, seien es Imperien, seien es Kleinststaaten wie im Heiligen Römischen Reich. Aber man kann Kant nicht als Stock benutzen, um den jüdischen Staat zu schlagen. Der Zionismus kann sich mit größerem Recht auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ berufen als der Multikulturalismus oder gar Postnationalismus heutiger Progressiver.

Boehm, der Philosoph, sollte Kant richtig interpretieren können. Aber er ist vor allem ein Zionismuskritiker. Und gerade deshalb, so steht zu befürchten, wurde er nach Buchenwald eingeladen. Wie Achille Mbembe zur Ruhr-Triennale 2020, wie das Kollektiv Ruangrupa zur Leitung der Documenta 2022, wie viele andere bei anderen deutschen Anlässen. Wer beharrlich nicht eingeladen wird, das sind Menschen, die das Projekt des Zionismus und die Erfolge des jüdischen Staates feiern. Israel bleibt der Jude unter den Staaten, und so lange das so bleibt, ist das „Nie wieder“ schlicht eine Lüge.

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