Poor boys shoudn’t think of marrying rich girls“, das soll jemand auf einer Party der Chicagoer High Society zu F. Scott Fitzgerald gesagt haben, der im Sommer 1916 der Millionärstochter Ginevra King den Hof machte. Fitzgerald war zu dieser Zeit ein Niemand, noch keine 20 Jahre alt und ein Student in Princeton, wo der aus der Mittelschicht stammende angehende Literat sich auch nicht wirklich in seinem Element fühlte. Ginevra, wiewohl auch etwas verliebt in den gutaussehenden, eloquenten Scott, war der Inbegriff eines Flapper-Mädchens aus bestem Hause, in deren Lebensplan nicht wirklich vorgesehen war, sich an einen dahergelaufenen Wannabe-Dichter zu binden.
Es war vielleicht sogar Ginevras Old-Money-Vater höchstpersönlich, der den Emporkömmling auf seinen Platz verwies, doch so genau überliefert es der tief getroffene Fitzgerald nicht. 1917 geht er zur Armee, ein Jahr später lernt er Zelda Sayre kennen, die die Frau seines Lebens werden wird. Ginevra aber bleibt eine Wunde – sie ist das Urbild für Daisy Buchanan, jene von Gatsby umworbene, vergötterte, am Ende aber mit aller Prachtentfaltung nicht (dauerhaft) zu bekommende Frau. Die frühe Begegnung der noch unverheirateten Daisy mit dem schmucken Offizier Gatsby folgt in ihrer Dramaturgie Fitzgeralds Liebelei mit Ginevra: Spitzenpartie aus Geldadelkreisen trifft auf unstandesgemäßen Großewortemacher.
Was daran einmal autobiografisch war, wurde dann allerdings auf geniale Weise in ein literarisches Ideal von überindividueller und überzeitlicher Gültigkeit verwandelt. Während Fitzgerald sich nach dieser Enttäuschung anschickt, ein berühmter Schriftsteller zu werden (und es mit dem Sensationserfolg seines ersten Romans „This Side of Paradise“ 1920 auch wird), modelliert sich sein Jay Gatsby selbst durch allerlei undurchsichtige Machenschaften zum Super-Neureichen, der seiner verlorenen Angebeteten endlich das Wasser beziehungsweise den Champagner reichen kann.
Ein amerikanischer Faust
Im April 1925 erschien „The Great Gatsby“, in dem Fitzgerald eine der großen Figuren der Weltliteratur schuf, eine Art Faust made in USA für ein amerikanisches Jahrhundert, ein Urbild des kapitalistischen Zeitalters, den prototypischen, nach Ruhm, Einfluss und allseitiger Zuneigung strebenden Hochstapler. Gatsby ist, so eines der Geheimnisse dieses Buchs, keine bloße Kreatur seines Autors, sondern eben sein eigenes Geschöpf, Selfmade-Man, ja Selfmade-Halbgott, jemand, für dessen Streben nach Größe es keine Grenzen geben darf.
Den Romantitel fand Fitzgerald zum Zeitpunkt des Erscheinens nur noch „gerademal okay, eher schlecht als gut“, wie er seinem legendären Lektor Maxwell Perkins schrieb, doch mit den vorgeschlagenen Alternativen, unter anderem „Trimalchio“ – nach dem dekadenten Gastgeber aus Petronius’ „Satyricon“ – konnte sich der Verlag nicht anfreunden.
Im gleichen Brief verwahrte sich Fitzgerald gegen Werbephrasen wie „Fraglos das Buch des Frühlings!“, doch heute drängt sich die Frage wieder auf: Ist „Great Gatsby“ nicht 2025 das „Buch des Frühlings“? Die definitive Pflichtlektüre zur Ära Trump II, zum Mar-a-Lago-Style amerikanischer Politik, zur Dauerwerbesendung in eigener Sache aus dem weißen Haus, dem superlativischen Eigenlob und der Großmannssucht ganz kleiner Lichter? Make Gatsby Great Again?
Es liegt verführerisch nahe, das so zu sehen, doch beruhte das auf einem unterkomplexen Verständnis der Hauptfigur. Die aufwändige, kommentierte Jubiläumsausgabe des Manesse Verlags mit der Neuübersetzung von Bernhard Robben (und einem glänzenden Nachwort von Claudius Seidl) hält sich von solchen Kurzschlüssen auch fern. Gatsby, der sich in der New Yorker Neureichengegend von West Egg) am Long Island Sound einen lächerlich riesigen Prunkpalast zulegt und dort orgiastische Feste feiert, ist eben gerade kein prinzipienloser Poser, sondern auf seine verquere Weise ein Idealist.
Seine ganze, auf Sand und dunklen Geschäften gebaute Existenz steht im Dienst der Brautwerbung, einem fast schon mittelalterlich-romantischem Minnedienst, der allerdings einem phantasmagorischen Objekt namens Daisy gilt, die mit den ihr zu Füßen gelegten Reichtum gar nichts anfangen kann. (Unter anderem deswegen, weil sie selbst schon sehr reich ist).
Das ferne grüne Licht am Steg der Bucht auf der anderen Seite (dem Anwesen von Tom und Daisy Buchanan) ist das Symbol dieser an Wahn grenzenden Illusion Gatsbys: dass das einzige Hindernis der erfüllten Liebe in materiellen Äußerlichkeiten besteht, die in dieser Gesellschaft zu erwerben oder zumindest zusammenzugaunern sind. Natürlich verkörpert Gatsby den „American Dream“, das Tellerwäscher-zum-Millionär-Klischee oder besser: Er setzt es voraus und ist überzeugt, dass ein Mann mit seinen Gaben und seinem Willen es ganz nach oben schaffen kann. Doch will er damit eine Frau zurückerobern, die ihn Jahre zuvor liebte und dann zugunsten einer (buchstäblich) sicheren Bank aufgab. Die Zeit selbst aber ist eine Grenze, die kein Geld der Welt überwinden kann.
Man kann heute an diesem Roman unendlich viele Details bewundern, und der heutige Leser muss (anders als bei manchen Klassikern der Moderne) keine intellektuellen Verrenkungen betreiben, um ihn als Meisterwerk anzuerkennen. Seidl richtet in seinem Nachwort den Blick etwa auf seine vermeintlichen Nebenfiguren wie Daisy oder die Erzählerfigur Nick Carrington, der sich als Beobachter gibt, aber doch selbst zentral für die Handlung ist und jene Werte von Verlässlichkeit, Hingabe und Treue lebt, die den von seinem Traum korrumpierten Gatsby gar nicht interessieren.
Die Neuausgabe bietet aber die schöne Möglichkeit, sich noch einmal vor jede Kanonisierung (nicht zuletzt durch die Verfilmungen) in die Perspektive der Zeitgenossen zu versetzen. Im Anhang sind Auszüge aus Fitzgeralds Briefwechsel und zeitgenössische Rezensionen abgedruckt. Fitzgerald ist sich absolut bewusst, welche künstlerische Höhe er hier erreicht hat: „Ich glaube, mein Roman wird der beste amerikanische Roman sein, der je geschrieben wurde“, kündigt er Perkins kurz vor Abschluss des Manuskripts im Sommer 1924 an.
Der antwortet schon nach erster Lektüre, es sei ein „Wunderwerk“ und ein paar Tage später, am 20. November 1924, regelrecht ergriffen: „Du hast mir einmal gesagt, Du seist kein geborener Schriftsteller – mein Gott! Du beherrschst schlicht und einfach Dein Handwerk; aber hierfür hast Du weit mehr als bloß handwerkliches Können gebraucht.“
Neben den vielen Details des Lektorats, den noch auf dem letzten Drücker ergänzten oder umgeschriebenen Passagen, kann man aus den Briefen die gewaltige Erwartung herauslesen. Doch „Gatsby“ floppt, die Rezensionen sind eher wohlwollend bis herablassend als euphorisch; erreicht mit Mühe und Not die nötigen 20.000 Exemplare, um den Vorschuss einzuspielen.
Fitzgerald hatte freilich schon vorab Gründe für einen möglichen kommerziellen Misserfolg ausgemacht: neben dem misslungenen Titel die Tatsache, dass es ein „Männerbuch“ sei: „das Buch enthält keine bedeutende Frauenfigur, dabei beherrschen Frauen gegenwärtig den Buchmarkt“ (ein Urteil, dem Seidl ausdrücklich widerspricht). Außerdem schob Fitzgerald es auf den fehlenden Umfang, die Leser seien an Umfänge von mehr als 300 Seiten gewöhnt und würden schmalere Werke nicht ernst nehmen.
Dabei ist gerade das eines der erstaunlichsten Charakteristika des Buchs: die Fülle an unvergesslichen Figuren und Beschreibungen auf derart kleinem Raum. Rein von seiner Handlung und den Schauplätzen ist der Roman der Dramatik nahe (vor allem bei der actionlastigen Auflösung der Handlungsknoten am Ende); zugleich aber ist es gerade die Erzählstimme Carraways, die dem Roman seine Einzigkeit verleiht. Mindestens so sehr wie um die verblendete Liebe Gatsbys geht es um das tragische Scheitern einer Männerfreundschaft.
„Gatsby“ ist groß, weil er sich in stets noch viel größere Fußstapfen stellen lässt: Man hat ihn als kapitalistischen Midas gelesen, als faustischen Unsterblichkeitssucher, als Verkörperung der neuen „Leisure Class“, als letzten Vertreter des amerikanischen Frontier-Mythos, in dem sich der moderne Mensch aus dem Nichts selbst erschafft und jede Grenze überwindet – so verstanden wäre ein Elon Musk durchaus ein Gatsby unserer Tage. Das bös Gesellschaftssatirische am Buch mag tatsächlich gerade Konjunktur haben.
Am Ende aber liegt individuelle Größe doch in einem Werk, das die Grenzen des eigenen, kleinen, vielleicht sogar tragische gescheiterten Lebens überdauert. Es kann ein Werk der Liebe sein, der Barmherzigkeit oder eines der Literatur. Im Jahr 1940, in dem der schwer alkoholkranke und als Autor vergessene Fitzgerald im Alter von 44 Jahren an einem Herzinfarkt starb, wurden von seinen Büchern insgesamt 72 Exemplare verkauft; seine letzte Honorar-Abrechnung vom August 1940 verzeichnet 13,13 Dollar. Nach seinem Tod begann die Wiederentdeckung. 2013 schätzte „USA Today“ die weltweiten Gesamtverkäufe vom „Gatsby“ allein auf 25 Millionen Exemplare.
F. Scott Fitzgerald: „Der große Gatsby“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Claudius Seidl. Manesse, 352 Seiten, 30 Euro.
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