Als die argentinische Vizepräsidentin Victoria Villarruel die Treppenstufen der Basilika im Stadtteil Flores von Buenos Aires, emporschreitet, schlägt ihr blanker Hass entgegen. „Nazi, Nazi“, rufen einige, andere pfeifen oder buhen. Die Szene ereignete sich am Abend des Ostermontags, des Todestags von Papst Franziskus.

Flores ist das Heimatviertel von Jorge Bergoglio, dem späteren Papst Franziskus. Villarruel ist gekommen, um mit vielen anderen Gläubigen Abschied zu nehmen. Die als erzkonservative Katholikin geltende Politikerin bekam an diesem Abend zu spüren, was viele andere konservative Katholiken auch empfinden: In einer unter Franziskus nach links gerückten Kirche sind sie zunehmend unerwünscht.

Das Vergehen von Villarruel: Sie mahnt in ihrem Heimatland an, dass auch an die Opfer linksextremer Gewalt in den 1970er-Jahren gedacht wird. Rund tausend Menschen wurden damals von linken Guerilleros überfallen und ermordet, ehe eine rechtsextreme Militärdiktatur (1976-1983) mit noch mehr Gewalt und Brutalität die Macht an sich riss und auf zehntausende unschuldige Opfer Jagd machte, denen sie vorwarf, Guerilleros zu sein.

Villarruel fordert eine „komplette Erinnerung“ an alle Opfer. Kritiker aus dem linken Spektrum werfen ihr jedoch vor, damit einen gesellschaftlichen Konsens aufzubrechen. Villarruel indes sagt, es habe diesen Konsens nie gegeben, sondern eine von linken Regierungen und mit ihr verflochtenen NGOs erzeugte Dominanz der historischen Lesart.

Diese Entwicklung hat auch mit Papst Franziskus zu tun. Nach seiner Wahl waren die Hoffnungen in Lateinamerika groß, der Argentinier könne auf einem der wichtigsten „Kernmärkte“ für die katholische Kirche neue Begeisterung entfachen. Diese Hoffnungen haben sich indes nicht erfüllt. Anstatt die katholische Kirche in Lateinamerika neu zu beleben, ist ein Erstarken der evangelikalen Kirchen zu beobachten, die den enttäuschten Konservativen eine neue Heimat bieten und der katholischen Kirche Macht und Einfluss streitig machen.

Waren es im 20. Jahrhundert noch linke Befreiungstheologen, die innerhalb der katholischen Kirche von konservativen Kräften gezielt diffamiert und diskreditiert wurden, deutet sich heute eine spiegelverkehrte Situation an. Konservative Positionen stehen vielerorts unter Generalverdacht. Wer sie ausspricht, riskiert gesellschaftliche oder mediale Ächtung und im schlimmsten Fall einen Karriereknick.

Besonders groß ist die Enttäuschung der konservativen Kräfte über den Umgang des Papstes mit den brutalen Linksdiktaturen in Lateinamerika. Während sich Franziskus immer wieder kritisch zur Politik des libertären Präsidenten Javier Milei äußerte, blieben Franziskus und viele kirchliche NGOs stumm, wenn es um Folter, Mord und die Unterdrückung der Opposition in linksextremen Diktaturen ging.

Länder wie Venezuela, Kuba oder Nicaragua gelten heute als die größten Migrationstreiber in der Region. Viele Sozialismuskritiker in den Diktaturen fühlen sich vom Papst alleine gelassen. Venezuelas Machthaber und Wahlbetrüger Nicolás Maduro hingegen nannte Papst Franziskus einen „Freund Venezuelas“, Kuba dankte ihm für seinen Einsatz gegen die US-Handelsblockade.

Die Opposition ist enttäuscht

Bei einem Treffen mit WELT vor einigen Wochen offenbarten drei prominente Oppositionspolitiker aus Kuba, Venezuela und Nicaragua, die inzwischen alle im Exil in Miami leben, wie sehr die Zurückhaltung des Papstes sie enttäuscht hat. „Ich bin sicher, dass der Vatikan auf politischer Ebene viel mehr für die unterdrückten Völker tun kann“, sagte der venezolanische Oppositionspolitiker Juan Guaidó.

Die kubanische Bürgerrechtlerin Rosa Maria Paya, deren Vater die verbotene konservative Partei Christliche Befreiungsbewegung gründete, erinnerte den Papst indirekt an die besondere Rolle von Geistlichen und die damit verbundene Aufgabe der Kirche: „Die katholische Kirche in unseren drei Ländern, Priester, die Ordensschwestern, die Menschen, die Laien haben zusammen mit unseren Völkern gelitten und bei vielen Gelegenheiten wie im Fall von Nicaragua standen sie an der Spitze des Kampfes für die Menschenrechte. Und die sind ja auch die christlichen Prinzipien.“

Und der ehemalige nicaraguanische Präsidentschaftskandidat Felix Maradiaga sagte: „Wir hoffen, dass der Papst seinen Blick nach Nicaragua richtet und uns dabei hilft unsere Freiheit zu finden, vor allem unsere religiöse Freiheit, die die Nicaraguaner und die Gläubigen verdienen.“

Dass der Papst die Stimme gegen den Kapitalismus erhob, aber zu den Menschenrechtsverletzungen im Sozialismus schwieg, hat viele konservative Katholiken in Lateinamerika schwer getroffen. Sie wandten sich ab oder wechselten die Lager. Ausgerechnet im katholischsten Land Lateinamerikas, in Brasilien, deutet sich inzwischen ein Machtwechsel an, der auch Wahlen entscheiden könnte.

Die überwiegend erzkonservativen evangelikalen Kirchen erfreuen sich in dem Land eines stetigen Zulaufs und könnten laut Schätzungen 2030 erstmals die Mehrheit im Land bilden. Die katholische Kirche wäre dann plötzlich in der Minderheit. Sie sympathisiert eher mit dem linken Präsidenten Lula da Silva, die evangelikalen Kirchen stehen dem Lager des rechtspopulistischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro nahe. In Mittelamerika gibt es ähnliche Tendenzen.

Katholische Kirche spürt den Bedeutungsverlust

Auch in den USA ist die Enttäuschung über Franziskus stark ausgeprägt. Das liegt auch daran, dass die katholische Kirche die wachsende Macht der erzkonservativen Evangelikalen spürte und damit einen drohenden Bedeutungsverlust. „In den USA sind die Dinge nicht einfach: Es gibt eine sehr starke, organisierte reaktionäre Haltung“, sagte David Gibson, Direktor des Zentrums für Religion Kultur an der Fordham University in New York, jüngst der BBC. Die katholische Kirche steht dort in einem Verdrängungswettbewerb, der durch evangelikalen Sender und Medienunternehmen angeheizt wird. Sie bestimmen die politische Debatte mit und versuchen konservative Katholiken abzuwerben.

In Argentinien zeigte sich der Erzbischof von Buenos Aires erschrocken über die Beleidigungen gegen Vizepräsidentin Victoria Villarruel am Rande des Gedenkgottesdienstes. „Sie haben nichts verstanden“, sagte Jorge Garcia Cuerva, der allerdings selbst zu den schärfsten Kritikern der Reformen der Regierung des libertären Präsidenten Javier Milei gehört. Dafür gab es im Inneren der Basilika eine Begegnung, die zeigt, dass es auch anders gehen kann. Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel, ein Diktaturopfer, und Villarruel, die aus einer Armeefamilie stammt, reichten sich in der Kirche die Hände.

Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.

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