Slawomir Mentzen hat aus seinen Ansichten noch nie einen Hehl gemacht: „Ein Pole in Polen muss einen Beitrag zahlen, um von einem Arzt behandelt zu werden, ein Ukrainer muss das nicht“, behauptet der Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen Konföderation (Konfederacja) während einer Wahlkampfveranstaltung in Belchatow in Zentralpolen.

„Sie kommen aus der Ukraine nach Polen, melden sich bei einem Arzt an, verlängern unsere Warteschlangen, lassen sich dann noch Medikamente erstatten und kehren nach Hause zurück“, schiebt Mentzen nach. Von „Medizintourismus“ spricht er gehässig. Mentzen und seine Konföderation agitieren seit Jahren gegen Ukrainer in Polen; Kritik äußern die Mitglieder der rechtsextremen, libertären und teils monarchistischen Sammelbewegung auch daran, dass Polen die Ukraine militärisch unterstützt. Für den 18. Mai ist der erste Wahlgang der polnischen Präsidentschaftswahlen angesetzt.

Da absehbar keiner der Kandidaten 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen dürfte, ist zwei Wochen darauf mit einer Stichwahl zu rechnen – und Mentzens antiukrainische Rhetorik wird derweil sogar von Karol Nawrocki übernommen. „In der Tat habe ich Signale erhalten, dass Bürger, die aus der Ukraine hierhergekommen sind, Probleme in den Warteschlangen vor Krankenhäusern und Kliniken verursachen. Ich bin der Meinung, dass Ukrainer in Polen kein besseres Leben haben sollten als Polen“, so der Kandidat der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS).

Dass polnische Politiker vor allem in Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem Stimmung gegen die Ukrainer im Land machen, ist ein Wahlkampfmanöver. Aber dieses Aufwiegeln steht zugleich für einen Stimmungswandel in der polnischen Gesellschaft. Kein anderes Land hat der Ukraine seit dem Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 derart beigestanden wie das Nachbarland Polen. Früh hat die polnische Regierung nicht nur Munition, sondern auch schweres Gerät aus eigenen Beständen über die Grenze geschickt; Millionen ukrainischer Flüchtlinge wurden aufgenommen, vielfach in privaten Unterkünften.

Polen gilt in Europa als Antreiber einer energischeren Ukraine-Hilfe und härterer Sanktionen gegen Russland. Gerade die bis Dezember 2023 regierende PiS stand für diesen Kurs. Der von ihr ins Rennen geschickte Kandidat, der parteilose Nawrocki, bricht jetzt mit dieser Politik.

Etwa 1,5 Millionen Ukrainer halten sich derzeit in Polen auf. Es ist europaweit die größte Gruppe – und sie hat Anspruch auf die gleiche medizinische Versorgung wie die polnische Bevölkerung. Ihre Integration hat vielfach Vorbildcharakter, die meisten von ihnen arbeiten und sprechen schon nach wenigen Monaten Polnisch – und doch macht sich unter Polen zunehmend Unmut über die Ukrainer breit. Sie klagen über langes Warten auf Arzttermine oder dass nicht genügend Betten in den Krankenhäusern frei seien. Verantwortlich dafür seien, so heißt es oft, die vielen Ukrainer. Die Konföderation und die PiS greifen das Thema auf. Der Tenor: Das Gesundheitssystem ist überfordert.

„Dass polnische Patienten sich über Ukrainer beklagen oder den Eindruck haben, dass sie das polnische Gesundheitssystem zusätzlich belasten, entspricht einem allgemeinen Trend in Polen: Nämlich dem, dass die Sympathien für die Ukrainer abnehmen und nicht alle glücklich damit sind, dass sich so viele in Polen aufhalten“, sagt Tomasz Sarosiek, Onkologe an einer Warschauer Klinik, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Sarosiek behandelt regelmäßig auch ukrainische Krebspatienten, oft Personen, die eine bereits in der Ukraine begonnene Therapie in Polen fortsetzen.

Eine wesentliche Verschlechterung der Versorgungslage durch die Ukrainer sieht er nicht. Die Lage sei vor 2022 schon angespannt gewesen, erklärt er. „Wenn nun ein polnischer Patient damals teilweise sechs Monate auf einen Facharzttermin warten musste und es jetzt zwei oder drei Wochen mehr sind, dann ist das in meinen Augen keine wirklich große Verschlechterung.“

Wartezeiten im polnischen Gesundheitswesen verlängern sich konstant seit 2012. Darauf weist auch Krzysztof Landa hin, Experte für Gesundheitssysteme, bis 2017 stellvertretender Gesundheitsminister Polens und bis 2024 Berater des ukrainischen Gesundheitsministers. Durchschnittlich vier Monate müssten Patienten in Polen auf einen Facharzttermin warten – unabhängig davon, ob Pole oder Ukrainer. „Die Wartezeiten für einen Termin bei einem Endokrinologen oder Chirurgen betragen bis zu einem Jahr“, sagt Landa WELT AM SONNTAG. „Der Zustrom von Ukrainern fiel in eine schwierige Zeit, als nach der Pandemie, in der die Krankenhäuser geschlossen waren, Patienten wieder anfingen, die Ärzte aufzusuchen“, sagt Landa.

Einer dieser Ukrainer ist Jurii Nalyvaiko, 63 Jahre alt, aus Odessa. Im November 2021 erhielt er seine Diagnose: Magenkrebs. Kurz darauf begann die Chemotherapie in Kiew, dann die Strahlentherapie. Wenige Monate später, als der russische Überfall begann, floh er mit seiner Frau Natalia über Rumänien nach Polen, wo sich bereits ihre Tochter aufhielt. „Ich wusste sofort, dass Krieg ist“, sagt er. Russische Truppen drangen damals in Richtung Kiew vor. Die Therapie so fortzusetzen, kam für die Nalyvaikos nicht infrage. Er wollte kämpfen, sagt Nalyvaiko. Doch ihm war bewusst, dass er dazu nicht mehr in der Lage war. 30 Kilo hatte er da schon verloren.

Nalyvaiko sitzt auf seinem Bett. Hier fühle er sich am wohlsten, sagt er. Er zeigt alte Fotos, auf denen ein agiler, kräftiger Mann zu sehen ist. Nalyvaiko ist zur See gefahren, hat die Welt gesehen. Jetzt hat er kaum mehr Kraft, ihm ist ständig kalt, essen fällt ihm schwer. Die Nalyvaikos haben ein kleines Haus im Warschauer Einzugsgebiet angemietet. Wie ein Gartenhaus sieht es aus. Bereitwillig gibt Nalyvaiko Auskunft über seine Krankengeschichte. Die polnischen Ärzte lobt er über alle Maßen. Er spricht davon, wie gut alles in Polen organisiert sei und ist dankbar für die medizinische Hilfe.

Tomasz Sarosiek, der Arzt aus Warschau, kennt Geschichten wie die der Nalyvaikos. Dass mehr Patienten mehr Arbeit und längere Wartezeiten bedeuten, bestätigt er. Doch wie auch Experte Landa sieht er die Ukrainer nicht ursächlich für diesen Zustand. Die Präsidentschaftskandidaten der Konföderation und der PiS, die teilweise um dieselben Wählergruppen konkurrieren, wird das nicht davon abhalten, die Ukrainer für Probleme des Gesundheitssystems in Haftung zu nehmen. Einer von beiden, darauf deuten die Umfragen, wird in die Stichwahl am 1. Juni kommen.

Jurii Nalyvaiko hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Nur wenige Wochen nachdem er auf seinem Bett gesessen und von den polnischen Ärzten geschwärmt hat, ist er gestorben.

Der Text wurde gefördert durch die Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Philipp Fritz berichtet im Auftrag von WELT seit 2018 als freier Korrespondent in Warschau über Ost- und Mitteleuropa.

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