Wer hat behauptet, Rache sei süß? Rache ist eine emotionale Herausforderung. Im Fall des Films „The Amateur“ ist es Charlie Heller (Rami Malek), über den der Drang nach Vergeltung kommt, nachdem seine Ehefrau Sarah bei einem Terrorangriff als Geisel genommen und kurz darauf erschossen wird. So weit, so psychologisch nachvollziehbar.
Bloß ist Heller nicht der geborene Racheengel. Er ist ein zwanghafter Nerd, der bei der CIA Daten dechiffriert. Er arbeitet in einem dieser fensterlosen Sichtbetonbüroräume, die in Langley, Virginia, wahrscheinlich genauso aussehen, wie man sie aus den vielen Film-CIA-Büros von „Homeland“ bis „Berlin Station“ kennt. Über Hellers Bildschirme huschen Codes und kryptische Zahlenkolonnen.
Daheim ist Kontrastprogramm. Charlie Heller lebt in einem Farmhaus auf dem Land, zur Arbeit fährt er mit einem Saab, in seiner Garage bastelt er an einem verbeulten Propellerflugzeug, das ihm Sarah (Rachel Brosnahan) zum Geburtstag geschenkt hat. Zum Abschied, bevor sie zu einer Konferenz in London aufbricht, schenkt sie ihm „ein Puzzle für meinen Tüftler“. Besser lernen wir sie nicht kennen; bald wird Sarah dem Plot von „The Amateur“ geopfert werden.
Vertuschungen bei der CIA
Nichtsahnend chattet Heller im Büro mit der Informantin Inquiline (Caitríona Balfe) und kommt einer anderen üblen Geschichte auf die Spur. Ein amerikanischer Drohnenangriff in Syrien ist gründlich schiefgegangen, die CIA verheimlicht die Sache. Für Heller werden sich die Top-Secret-Dokumente später als Druckmittel erweisen. Denn als er von seinen Vorgesetzten über die Ermordung seiner Frau unterrichtet wird, sie aber nichts weiter unternehmen wollen, weil es „um eine größere Sache“ geht, und den traumatisierten Witwer zur Psychotherapeutin schicken, fasst er einen Plan.
Er recherchiert zur Geiselnahme in London, wertet mit forensischen Geheimdienstmethoden die Bilder von Überwachungskameras aus und identifiziert die Verantwortlichen für den Tod seiner Frau. Heller will Rache nehmen, und dafür soll die CIA ihn zum Agenten ausbilden, anderenfalls werde er die dunklen Geheimnisse aus Syrien an die Öffentlichkeit bringen. Seine in Vertuschung geübten Chefs – „Deckel drauf“ – gehen darauf ein, aber nur zum Schein.
In Camp Perry, wo die Nationalgarde das Schießen lehrt, beginnt die Ausbildung des schmächtigen Kryptografen. Er scheitert schon beim Abfeuern einer Pistole auf Pappkameraden. „Du wirst nie ein Killer“, stellt Colonel Henderson (Laurence Fishburne) fest. Beim Bombenbau stellt sich Heller mit seinem IQ von 170 besser an, auch beim Austricksen seines Aufpassers.
Bald ist er selbst Gejagter, von der CIA und von den Terroristen, als der erste Racheakt nach einigen Anfangsschwierigkeiten gelungen ist. Der Trip führt ihn nach London, Paris und Marseille, nach Istanbul, wo ihm Inquiline aus der Patsche hilft, nach Madrid, ins rumänische Constanta und am Ende an die russische Küste, um zu vollenden, was er begonnen hat.
„The Amateur“-Regisseur drehte auch „Slow Horses“
Rache ist süß, weil die Bestrafung eines Menschen, der das Vertrauen missbraucht hat, Wohlbefinden auslöst, indem das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert wird. Das haben Neurowissenschaftler herausgefunden. Aber vollzogen ist sie bitter. Rache kann den Rächer auffressen – auch das gehört zur Wahrheit. Im Kino ist der Topos zwar gesättigt, aber noch lange nicht durchgespielt: Rami Malek als Charlie Heller versucht dem Genre eine neue Variante hinzuzufügen.
Für den James-Bond-Widersacher (in „Keine Zeit zu sterben“) und Oscar-Preisträger (für die Darstellung des Freddie Mercury in „Bohemian Rhapsody“) ist Rache keine vordergründig emotionale Angelegenheit. Verlust und Wut sind nur Trigger, die ein inneres Programm in Gang setzen. Was ihn treibt, sind die Steine in diesem Puzzle aus Geheimnis und Zufall zusammenzusetzen: Vergeltung als Intelligenzprüfung.
Also lässt Regisseur James Hawes, der die gefeierte erste Staffel von „Slow Horses“ gedreht hat, Heller auch kaum Zeit, die fünf Phasen der Trauer zu durchlaufen. Leugnen, zornig werden, den Schicksalsschlag mit sich verhandeln, deprimiert sein, darüber wisse er alles, lässt Heller die Psychologin in der Therapiestunde abtropfen, am Ende (seiner Rache) komme die Zustimmung, denkt er nur.
Aber je kühler er seine Strafaktion verfolgt, desto kälter lässt es den Zuschauer. Es liegt wohl auch daran, dass Sarah im Film eine so blasse Rolle spielt, nur noch in vereinzelten Flashbacks auftaucht. Dabei möchte man doch nicht nur Spannung (die wird gut aufgebaut), sondern mitleiden!
So wie damals mit Charles Bronson, als er das erste Mal rotsah. Im New-Hollywood-Thriller von 1974 gibt er den Archetypus des Rächers, den ein brutaler Angriff auf seine Familie in die Lynchjustiz treibt. Unerreicht nahe geht einem auch Choi Min-sik in seiner Rolle im Film „Oldboy“ von 2003. Man fühlt, wie ihm erst die Rachsucht hilft, in schuldloser Gefangenschaft nicht den Verstand zu verlieren.
Und dem eleganten Grafen von Monte Christo will man mit jeder neuen Verfilmung wieder auf seine Vergeltungstour folgen. Schon um als sein Partner in Crime an dem Genuss teilzuhaben, die Köpfe rollen zu lassen. Alles Rache-Profis, verglichen mit dem Amateur.
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