„Weine, armes Russland, weine.“ Die Klage des Gottesnarren aus dem Finale von „Boris Godunow“, sie könnte auch am Schluss von Modest Mussorgsky anderem, ebenfalls unvollendeten, von wohlmeinenden Kollegen wie Rimski-Korsakow, Strawinsky und Schostakowitsch vervollständigten Musiktheater-Brocken stehen: der „Chowanschtschina“, den „Schweinereien der Fürsten Chowansky“. Denn auch hier tut sich ein dystopisch-hoffnungsloser Bilderbogen eines zerstrittenen Landes auf. Rechteloses Humanfutter da unten geknechtet von denen da oben und von der Kirche. Kein Zeichen auf Verbesserung.

Gewaltige Chormassen, mächtige, finstere Männerrollen und eine schwer durchschaubare Altpartie werden in der Oper aufgeboten. Die elliptische Dramaturgie, die seltsam verzerrt scheinbar Unwichtiges in den Fokus rückt, die keiner Figur Sympathie entgegenbringt und keine Figur wirklich entwickelt, hat hingegen etwas visionär Modernes, schweifend Surreales.

Gerade wurde dieses lange vernachlässige, eben auch aufwendige Werk, das sich langsam ins allgemeine Opernrepertoire schaufelt, in Genf wie bei den Osterfestspielen Salzburg von zwei bedeutenden Regisseuren auf die Bühne gewuchtet. Am Grand Théâtre de Genève beendete Calixto Bieito nach Prokofjews „Krieg und Frieden“ und Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eckigen Mussorgsky-Vierakter seine gewichtige Russland-Trilogie. Und wahrt klug die Mitte zwischen Überzeitlichkeit und aktuellen Anspielungen auf die Zustände im gegenwärtigen Moskau.

In Salzburg hingegen, dem teuersten und opulentesten aller Opernfestivals, zeigt sich dieses schwarze Stück als etwas lähmendes Fanal. Im episch-brechtischen Minimalismus von Simon McBurney – ohne jeden Sängerstar, mit ein paar Videoschleifen verziert – wird dem unlustigen Luxuspublikum der Spiegel einer Welt ohne Moral vorgehalten.

Intrigen im Zarenreich – groß in Genf

Ein düsteres Land – gestern wie heute – in beiden Produktionen: Gezeigt wird Russland einmal mehr als Nation schwacher, aber grausamer Herrscher, aufgerieben in Clan- und Klassenkämpfen, unübersichtlich und letztlich schwer verstehbar. Da gibt es Intrigen zwischen den adeligen Soldatengruppen der Strelizen und Bojaren, natürlich auch um den Zarenthron.

Angereichert wird es um die fanatische, sektenhafte Gruppe der Altgläubigen samt ihrem ebenso zielstrebig-empathielosen Führer Dossifei, die angesichts der herannahenden Reitermeute des endgültig die Macht usurpierenden Peter des Großen kollektiv Feuerselbstmord begeht. Dazwischen irren verloren einzelne Individuen, denen ebenfalls kein Glück beschienen ist. Am Ende dröhnen hohle Gongs, die im Nichts verhallen. Menschen sind hier nur Verfügungsmasse, ihr Tod ein zu vernachlässigender Kollateralschaden.

Bedeutsam ist in Genf das ästhetisch stringente Ineinandergreifen von Rebecca Ringsts Bühne, gebildet vorwiegend aus diversen LED-Wandelementen samt der mal abstrakten, mal konkreten Videografie von Sarah Derendinger. Ingo Krüglers zurückhaltend-heutige Kostüme und das suggestive Licht von Michael Bauer fügen sich perfekt ein. Da gibt es flammend rote Schriften in Kyrillisch vom großen Russland, tänzelnde „Schwanensee“-Ballerinen als gleichmütiger Kulturdekor, collagierte Führerporträts, sozialistischen Wandmosaik-Realismus als Werktätigenfeier, rätselhafte schwarz-weiße Chiffren.

Und vorn kreiselt das Modell des Europaparlaments, das irgendwann von diesem Teil der Welt noch einigermaßen zugeneigten, seine Geschäfte machenden Fürsten Golizyn (charaktervoller, nicht zu weicher Tenor: Dmitry Golovnin) abgefackelt wird. Zuvor aber wurde hier von einem Gottesnarren (anrührend schräger Tenor: Emanuel Tomljenovic) das Hirn des aufgebahrten Stalins verspeist (ein typischer Bieito-Witz der eher rohen Art).

Der buchhalterisch korrekte, völlig gefühlskalte Bojare Schaklovity (eisig toll in seinem Monolog über Russland und sein trauriges Schicksal: Vladislav Sulimsky) murkst den alten, grausamen Strelizenführer Iwan Chowansky in der Badewanne ab. Den gibt Bass Dmitry Ulyanov als Gefühlsgrobian und verwahrlosten Warlord, mit einer vermummten Guerillaschar um sich herum.

Anfangs sehen wir den souverän von Mark Biggins einstudierten und viel beschäftigten Chor im Schatten, bewegungslose Figuren mit ihren Trolleys, an einem Ort des Übergangs, einer weit als Glasstahlvorhang sich wölbenden Flughafenhalle womöglich. Und so endet es auch, mit Koffern und Menschen im Zwielicht: Doch die begehen in einem rauchenden, möglicherweise in irgendein Exil oder nur in den Gulag fahrenden Eisenbahnwagen Kollektivselbstmord.

Die einzig bedeutende Frauenrolle ist Marfa, eine esoterische Aktivistin (grandios satt gesungen von Mezzosopran Raehann Bryce-Davis), die so irr wie leidenschaftlich als fremde Frau durch das Stück mäandert. Kassandra-gleich mit flammender, scharf fokussierter, in jeder Gefühlsregung bewusst geführter Stimme, ist sie eine erratische Figur, hin- und hergerissen zwischen allem und allen, die schließlich ihr Heil im Jenseits sucht.

Vorher hat sie noch den ihr verfallenen Prinz Andrej Chowansky (ein schwacher Unsympath mit hell-penetrantem Tenor: Arnold Rutkowski) erstickt, zieht ihn zum Sterben auf ihren massigen Körper: Orgasmus als großer Tod. Und über allem segnet der in seinen Gebetsteppich gewickelte Dossifei (ein erztönender Bass, mächtig wie ein Baumstamm: Taras Shtonda) die Fanatiker, die auch nicht besser sind als die Kaste der machtbesessenen Realpolitiker. Eine Geschichte von Ambition und Verrat ist das, von Liebe und Enttäuschung, Glaube und Fatalismus bis das Rad der Geschichte sie alle zermalmt.

Eros und Thanatos mischen sich zu einer schwerblütigen, doch elektrisierenden Musikmischung, die der ebenfalls an allen drei russischen Bieito-Produktionen in Genf beteiligte Alejo Pérez mit dem Orchestre de la Suisse Romande geschickt ausbalanciert. Die Solo-Instrumente habe enormes Gewicht, werden auch im Gesamtklang fein aufgefächert; insbesondere die Streicher leuchten auf. Der dumpfen, trostlosen Atmosphäre auf der Bühne, wo sich die altrussische Opernwelt in ihren ewig trostlosen Schlachten zwischen Thronprätendenten, Prätorianern, Glaubensradikalen und schwankenden Volksanhängern selbst zugrunde richtet, antwortet von unten brütend verdämmernde, dann wieder leichtfüßig tänzelnde Musik.

Nur zweite Wahl in Salzburg

Viel schwächer ist hingegen die an die New Yorker Metropolitan Opera weiterwandernde Salzburger Aufführung. Das beginnt schon mit den überflüssigen, ja, nervigen Ambient-Noise-Zwischenspielen, gefolgt von einem vom Bruder des Regisseurs Gerald McBurney neukomponierten Auftritt von Peter dem Großen als quakiger Kindersopran sowie dem scheußlich verstärkten Schlusschor der sterbenden Altgläubigen, der das Finale ruiniert.

Das überlebt neben dem toten Andrej Chowansky (stärkster der Männer: Thomas Atkins) mit melodramatisch rudernden Armen auf offen-verrauchter Torf- und Trümmerbühne die von Nadezhda Karyazina inbrünstig, aber zu schmal für diese russische Erde gesungene Marfa: ausgerechnet diejenige, die sich am meisten nach dem gemeinsamen Tod gesehnt hat. Und über sie senkt sich gnädig der mit gestickter Sowjetsymbolik inkrustierte Brokatvorhang des Bolschoi-Theaters.

Dafür hat der Fürst Iwan Chowansky (eindimensional: Vitalij Kowaljow) einen Schläger mit Büffelhörnermütze wie der QAnon-Schamane der Kapitolstürmung, auch die rote Krawatte des stringent seinen Mordplan durchziehenden Schaklovity (zu kleine, schnell gepresste Stimme: Daniel Okulitch) soll wohl russische Oligarchen mit US-Verhältnissen gleichsetzen. Dann aber wird aus seinem dämonischen Schatten der zaristische Doppeladler. Und Matthew Whites blässlicher, aber weltläufiger Fürst Golizyn wird auf halber Höhe an einem Konferenztisch zwischen Bonsais platziert. Selbst der Dossifei von Ain Anger ist hier nur ein blökend bigotter, aber nie angsteinflößender Schwurbler.

Erstaunlicherweise ist in Salzburg ebenfalls Rebecca Ringst die Bühnenbildnerin, aber hier hat sie nur routiniert eine ihre bekannten Metallkisten auf die drastisch verengte, ein wenig mit Neonlicht und diversen Ebenen spielende Bühne gestellt. In der inszeniert Simon McBurney in generischen Billigkostümen ebenso vorhersehbar Masse und Macht und viele Leichen. Für ein paar Effekte, wie den in die Höhe gezogenen blutigen Fürstenrock Chowanskys, ist er aber gut.

Gemessen am Star-Anspruch der bis zu 500 Euro teuren Tickets sind auch der Dirigent Esa-Pekka Salonen, der slowakische philharmonische Chor, der Bachchor Salzburg und das Orchester des finnischen Rundfunks hier nur zweite Wahl. Sie machen einen ordentlichen Berufsmusikerjob, nicht viel mehr. Selbst der zart anschwellende Sonnenaufgang über der Moskwa und der melismatisch kreiselnde Tanz der persischen Sklavinnen im dritten Akt, die musikalisch schönen Momente dieser spröden Partitur, kommen so nebenbei.

Doch Mussorgskys russische Opern haben in diesen schwierigen Zeiten weiterhin mahnend Konjunktur: Zum Holland Festival im Juni tritt in Amsterdam als nächstes Regie-Schwergewicht Kirill Serebrennikow mit „Boris Godunow“ an.

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