Auserzählt ist ein Wort, das eine ziemlich eindrucksvolle Karriere hingelegt hat in den vergangenen Jahren. Vielleicht war diese Karriere der Vorbote des Zeitalters der Narrative. Aber wir schweifen ab.

Jedenfalls ist auserzählt ein Wort, das ungefähr so universell einsetzbar ist wie Narrativ. Es gilt für Liebesbeziehungen wie für Fernsehserien. Ein Schlusswort. Manchmal auch nur eine Bitte, fast ein Flehen. Letzteres gilt vor allem für Fernsehserien.

An deren jeweiligem Staffelende man sich regelmäßig überlegt, ob man wirklich wissen will, wie es mit den Leuten weitergeht, deren Schicksal man jetzt schon 18 Folgen und drei Jahre lang verfolgt hat. Und dann steht man wiederum regelmäßig an der Klippe, die Serienmacher am Ende jeder Staffel eines potentiell erfolgreichen Mehrteilers errichten müssen. Und denkt sich gern: Nein.

Womit wir jetzt endlich bei „How to sell drugs online (fast)“ wären. Und uns kurz erinnern müssen an das Jahr 2021. Da war der deutsche Serienboom noch einigermaßen in Ordnung. Und die wahrscheinlich international erfolgreichste deutsche Serienproduktion von Netflix endet mit der Verhaftung ihres jugendlichen Helden.

Alle zentral an der Coming-of-Age-Geschichte – einer Art juveniler Variation des Drogenkocherdramas „Breaking Bad“ – Beteiligten hatten das Erwachsenenalter erreicht. Das Abitur war geschafft. Nicht alle hatten alles überlebt.

„Puberty isch over“, hieß es an dieser Stelle. Und es wurde beinahe gefleht, Rinseln endlich in Ruhe Rinseln sein zu lassen, dieses Kaff in der rheinischen Schiefebene, das es so wenig gibt, wie es das Winden in „Dark“ in der anderen welterfolgreichen Netflix-Serie gibt.

Worum es geht

Im Jahre 2015 stürmte ein Sondereinsatzkommando der Drogenfahndung eine Wohnung im Leipziger Stadtteil Gohlis. Ziel war das Kinderzimmer des damals 17-jährigen Maximilian Schmidt. Kaum später wurde ein Kleinlaster geordert, um die 320 Kilo Drogen aller Arten wegzufahren, die man gefunden hatte.

Zwei Jahre lang hatte Maximilian Schmidt unter dem Kampfnamen Shiny Flakes einen der schwunghaftesten Online-Drogenhandel in Europa betrieben. Eine Art Limango für Rauschmittelabhängige. Gut 1000 Kilo wurden auf seinem Kinderbett umverpackt und versandfertig gemacht. Im Gegenwert von mehreren Millionen Euro in Bitcoins.

Schmidt wurde – das kann man sich in einer bemerkenswerten Netflix-Doku anschauen – zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach vier Jahren kam er frei. So richtig legal wollte sein Leben nicht werden. Er sitzt wegen Drogenhandels wieder ein. 2021 konnte man ihn in „How to sell drugs online (fast)“ sehen, als er am Ende der dritten Staffel jenen Moritz Zimmermann verhaftet, dessen Geschichte es ohne seine nie gegeben hätte.

Was passiert

Moritz Zimmermann ist ein spargeliger Nerd, wie er im Buche steht. Nesquik-Tetrapak-abhängig, bleich, schmal. Total verliebt in Lisa. Voll der Ablehnung für den örtlichen Kleindealer und Dorfschönling Dan. In einer unausgesprochenen Bromance verbunden mit dem eher fülligen Lenny.

Für Lisa und die Liebe machen Lenny und Moritz, die beiden Programmiergenies, aus dem darbenden Gebrauchtgaming-Online-Start-up von Moritz ein schwunghaftes Drogen-Start-up. „MyDrugs“ heißt es. Es wird immer größer. Es wächst ihnen über ihr pubertätsverwirrtes Hirn.

Womit er nicht nur in die Zwickmühle gerät, Steve Jobs und Pablo Escobar gleichzeitig werden zu müssen, sondern die Serie auch noch in das Walter-White-Dilemma: Was macht man mit einem guten Menschen, der Gutes will, aber es nur mit kriminellen Mitteln erreicht, der an der Macht schnuppert und abhängig davon wird?

Muss man nicht irgendwie doch Gerechtigkeit walten lassen? Walter White stirbt (nach fünf Staffeln, die „Better Call Saul“-Prequel-Staffeln lassen wir jetzt weg). Moritz Zimmermann wird verhaftet (nach drei Staffeln).

Warum man das sehen muss

Weil die Dialoge blitzschnell, blitzgescheit und schräg sind, weil das Personal geradezu ideal besetzt ist. Weil es weder nazit noch stasit und sich eine deutsche Serie, statt sich im zeitgeschichtlichen Düsterwald zu verlaufen, ausschließlich und moralisch durchaus zweifelhaft mit biochemischen Stimmungsaufhellern beschäftigt. Und selbst zu einem wird.

Weil man ganz viel lernt. Dass es das deutsche Hinterland nicht nur an Atmosphäre, sondern auch an krimineller Energie durchaus mit dem amerikanischen aufnehmen kann zum Beispiel. Dass deutsche Serien sich ästhetisch nicht hinter amerikanischen verstecken müssen, wenn sie nur skrupellos und hemmungslos und schnell genug alles nutzen, was es an Mitteln und Möglichkeiten gibt, das Hirn der Generation Z und alles zu spiegeln, was seine Funktionsweise beeinflusst – „How to sell…“ wird in fast noch atemberaubenderem Tempo als „Sherlock“ mit einblendeten SMS, Instas und Tiktoks erzählt.

Weil „HTSDOF“ funktioniert wie ein (westdeutsches) Mentalitätsmuseum und mit Begriffen, Zeichen, Bildern, Moves operiert, für die Eltern damals googeln mussten und Geschwister heute schon googeln müssen.

Wie es jetzt weitergeht

Moritz kommt – wie Maximilian Schmidt – nach vier Jahren aus dem Knast. Aus Kindern (Lenny) sind Väter geworden. Aus Angebeteten (Lisa) investigative Journalistinnen. Aus Konkurrenten (Dan) CEOs eines Start-ups für Produkte zur (mehr oder weniger) gesunden Ernährung von Gamern, dessen Geschäftsmodell und Coding sich eigentlich dem Hirn von Moritz verdankt.

„Bonus Life“ heißt Dans Silikon-Valley-in-Rinseln-Ding, in dessen Arbeitsalltag (gelebtes Denglish, Berufsjugendlichkeit, kindergeburtstagsähnliche Kommunikationsstruktur, flache Hierarchien, die so flach natürlich nicht sind) die Macher von „HTSDOF“ all ihre satirische Energie ausleben.

„Bonus Life“ bringt Moritz genauso an den Rand seines festen Plans, zukünftig sein Leben legal zu leben, wie die Tatsache, dass es alles, was er sich als legales Geschäftsmodell für die Zukunft überlegt hat, längst schon gibt. Ein Graf-von-Monte-Christo-Rachemärchen fängt an.

Beginnt irgendwo in der Wüste und endet nach sechs Folgen beinahe in einer solchen. Moritz heuert, angezettelt von seinem Knastkumpel Ersan, bei „Bonus Life“ an, um es – sehr erwachsen von innen her zu zerstören – und balzt um den Gefriervertriebbetrieb „Brofrost“ (kein Druckfehler) und dessen CEO Behzad herum. Der soll Investor werden, ist aber die dunkle Seite der Macht. Behzad handelt nämlich genausowenig mit lustigen Speiseis-Hundchen, wie weiland Moritz vor der Verhaftung mit erzgesunden Nahrungsergänzungsmitteln. Moritz muss seine Seele wieder dem Teufel verkaufen.

Vor allem handelt die vierte Staffel von der Freundschaft – Moritz will Lenny unbedingt zurück, ständig streift die Staffel durch ein Zitatmuseum der RomCom-Geschichte mit Moritz als Hugh Grant und Lenny als Keira Knightley mit schräger Perücke.

Vom endgültigen Erwachsenwerden und der Verschärfung der bisherigen Dilemmata (Freundschaft versus Geschäft, Familie versus Karriere, Moral versus Macht, legal, illegal, scheißegal etc.). Schüsse fallen, Menschen sterben, unter anderem weil Plotfäden ihnen mutwillig bis zur Atemlosigkeit um den Hals gelegt werden. Es stehen noch überraschend viele am Ende an der Klippe und hoffen auf Fortsetzung.

Was bleibt

Was bleibt: Die Hoffnung. Dass jetzt nicht nur die Pubertät over ist, sondern überhaupt und tatsächlich die ganze Geschichte von Moritz und Rinseln und dem ganzen Rest. Bevor noch jemand merkt, dass „How to sell drugs online (fast)“ als Charakterdrama zumindest von Beginn an auf der Stelle tritt. Und das „Breaking Bad“ aus dem Bergischen Land auserzählt ist.

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