Es ist eine kalte Welt, durch die sich Matthias Brandt als Estragon und Paul Herwig als Wladimir schleppen. Alles Illusionäre und Dekorative hat Katrin Brack von der Bühne des Berliner Ensembles verbannt, kein bunter Stoff, nichts. Nur große Bühnenscheinwerfer, in deren Licht die beiden Hauptfiguren von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ ein kleines bisschen Wärme zu finden hoffen. Ein großartiges Bühnenbild, von so existenzieller Wahrhaftigkeit wie die Shakespeare-Zeile „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, ein armer Komödiant“. Und ein Abend, der aufs große Ganze geht.
Wie soll man, über 70 Jahre nach der Pariser Uraufführung, das bekannteste der Theaterstücke des irischen Literaturnobelpreisträgers spielen? Klar, man kann sich an Beckett – trotz strikter Vorgaben der Rechteverwalter – austoben und ihn mit dem politischen Tagesgeschehen oder einer Theatermode traktieren. Doch am besten sind seine Texte noch immer, wo sie sich in ihrer Tragikomik entfalten können – wie vor ein paar Jahren mit den traurigen Clowns Samuel Finzi und Wolfram Koch am Deutschen Theater Berlin, zwischen Stummfilmwitzen und verzweifeltem Im-Kreis-Gerenne.
Regisseur Luk Perceval vertraut am Berliner Ensemble darauf, dass man interessierten Zuschauern einen Beckett nicht erklären, sondern nur zeigen muss. Und obwohl nichts ausgedeutet oder vereindeutigt wird, fehlt es diesem Abend keineswegs an Klarheit und Wucht, ganz im Gegenteil. Das liegt an den archetypischen Bildern von Gewalt, Verfolgung und Verzweiflung, die Beckett geschaffen hat und deren unnachahmliche Kraft Perceval wieder in Erinnerung ruft. Es sind die Bilder einer Menschheit in der Klemme, von Kain und Abel über den gekreuzigten Jesus bis zu Wladimir und Estragon.
Der Klamauk wird bei Perceval nicht ausgespart, doch seine Regie erschöpft sich nicht darin, anders als beim ironisierenden Gestus des Poptheaters. Das Alberne gleicht einem Kontrastmittel, um das Grausame umso deutlicher hervortreten zu lassen. Dafür braucht es präzise Schauspieler wie Brandt und Herwig, die selbst übertrieben humpelnd oder mit heruntergelassener Hose nicht ins Banale kippen, sondern das Erschütternde mitklingen lassen. So auch bei den Kostümen von Ilse Vandenbussche, der Netzstrumpfhose oder dem an Sträflingskleidung erinnernden Hemd mit Streifen.
Dass die Figuren auch Gefangene ihres eigenen Textes sind, zeigt sich, als die am Bühnenrand platzierte Souffleuse die Regieanweisungen spricht. Ungläubig greift Wladimir nach dem Textbuch und tatsächlich, so steht es geschrieben. Unveränderlich. Und der metaphysisch verunsicherte Wladimir? Ist wieder einmal ein Gefesselter und Ohnmächtiger, dem selbst durch solche postmodernen Regietricks nicht mehr geholfen werden kann, mit denen man sich üblicherweise über den Text erheben kann. Perceval zeigt, dass auch Becketts Theater ein Theater der Grausamkeit genannt werden darf.
Ein weiteres Exempel der Grausamkeit bieten Oliver Kraushaar und Jannik Mühlenweg als Pozzo und Lucky. An einem Seil schleift der fast als Karikatur eines Herrenmenschen angelegte Pozzo seinen zum Tier erniedrigt wirkenden Knecht hinter sich her. „Tanze!“ oder „Denke!“ befiehlt er ihm und beschimpft ihn aufs Übelste. Das entwürdigende Schauspiel wird von Wladimir und Estragon mit halbgarer Empörung kommentiert, wie wenn die Genossen der Bosse von der SPD sich in Wahlkampfzeiten ausnahmsweise wieder einmal mit großem humanistischem Getöse zur „sozialen Frage“ in Pose werfen.
Viele böse Pointen
Als Lucky zum Denken von der Leine gelassen wird, reißt er aus und flüchtet durch den Saal bis in den Rang, verfolgt vom seilschwingenden Pozzo. Das wirkt zunächst noch heiter, ist aber ein weiterer Präzisionsschlag der Regie in die Magengegend der Zuschauer, die wie Wladimir und Estragon zu in Passivität erstarrten Komplizen dieser Entmenschlichung gemacht werden. So sind alle auf ihre Weise gefesselt, mal durch rohe Gewalt wie bei Lucky, mal durch verzweifeltes Hoffen auf den mysteriösen Godot oder eben durch die theatrale Verabredung des Als-ob. Alle sind hier verstrickt.
Es ist nur eine der vielen bösen Pointen bei Beckett, dass sich Wladimir und Estragon im Pozzo-Lucky-Spiel versuchen, nachdem die realen Vorbilder abgegangen sind – ein fataler Wiederholungszwang. Oder ein Mangel an Fantasie? „Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert“, heißt es. Nur wer amüsiert sich hier eigentlich? Die beiden sprechen nicht nur von Schlägen, denen sie immer wieder ausgesetzt sind, sondern von Millionen, die erschlagen wurden. Dass Beckett bei seinem Stück auch die Verfolgung und Ermordung der Juden vor Augen hatte, ist bis heute eine überzeugende These.
Mit Percevals erschütternder Inszenierung versteht man, warum Intellektuelle wie Theodor W. Adorno an Beckett nicht vorbeikamen: Weil der einen ästhetischen Ausdruck für das Grauen gefunden hatte. Selbst Filme über Auschwitz wie „Zone of Interest“ reichen da kaum heran. Gleichzeitig gibt es bei Becketts Weg zum Nullpunkt des Menschlichen diesen eigentümlichen Rest, den der Philosoph Alain Badiou das Begehren nannte, das nicht totzukriegen ist. Am Ende fragen die Wartenden den Boten, der wieder einmal das Ausbleiben von Godot verkündet: Haben Sie uns genau gesehen? Moral schrumpft auf den letzten Spalt offener Wahrnehmung. Ist das noch ein Mensch? Oder könnte das einst einer geworden sein? Ein schmerzhaft-kluger Theaterabend.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.