Es fing alles ganz harmlos an. Neue Nachbarn machten sich mit Sägen und sonstigen Geräuschen bemerkbar. Man traf sich am Zaun, plauderte. Im Sommer dann war klar, dass hier ein Geflügelzüchter am Werk war. Munter krähten mehrere Hähne, vielmehr lernten sie mühselig das Krähen, und es war von Rebhühnern und alten Rassen die Rede. Als ich die Rosen schnitt, blickte ich wegen der mir unbekannten Laute auf und sah einen Fasan, der sichtlich unerschrocken durch unseren Garten spazierte. Am Ende des Sommers war der Zauber vorbei: Offenbar war der Besitzer wegen der kommenden Kälte mit Sack und Pack abgereist. Doch blieben einige Hühner zurück, die sich dem Transport verweigert hatten: sogenannte Steinpiperl, eine österreichische Kleinhuhnart, die recht wild geblieben ist und etwas Besonderes kann, nämlich fliegen.
Die Grundstücke hier sind recht groß und wild, so wie überhaupt die Gegend, in der wir wohnen, urtümlich ist, in der Nähe des Waldes, am Rande eines winzigen Dorfes. Hier sind Wildtiere die Normalität: Rehe, Wildschweine, geschenkt. Füchse schleichen übers Grundstück, Marder fressen Autokabel. Und auch der neu angesiedelte Luchs treibt sein Unwesen bei einem Schaf- und Ziegenzüchter der Gegend, dass sogar schon die Zeitung berichtete. Und nun waren da die vier Piperl, noch ganz jung, ein Hahn und drei Hennen, vielleicht sogar Geschwister.
Bis in den Oktober hinein hielten sie zusammen. Eine nette Truppe. Oft saß der Hahn auf unserem Tor. Ein prächtiger Kerl. Wenn er krähte, freuten wir uns jedes Mal, weil wir sahen, wie sich die Brust hob und er merklich besser im Ton geworden war. Die Hühner taperten ihm immer hinterher. Eines Morgens war er verschwunden. Ausgerechnet er, der stolze Anführer der Bande, futsch. Wir wollten es nicht glauben. Und dann ging es Schlag auf Schlag: aus drei Hühnern wurden zwei. Manchmal sahen wir diese beiden tagelang nicht, ja, wir hatten sie schon aufgegeben, bis ein anderer Nachbar uns darauf hinwies, dass beide Überlebende bei ihm Zuflucht gefunden hatten im Unterholz. Sie schienen zufrieden mit ihrer Zweisamkeit. Im Dezember dann der absolute Tiefpunkt. Es waren nicht mehr zwei, sondern nur noch eines: Nur ein Huhn war durchgekommen, hatte die Nächte überlebt. Ein einsames Steinpiperl!
Aus vier Hühnern wurde eines
Gemeinhin gelten Hühner als Gruppentiere. Jeder, der Hühner hält, hat mindestens drei. Immer ist von der Hackordnung die Rede, als seien Hühner dumm und keine Individuen. Kann also ein Huhn überleben, so ganz allein, auf sich gestellt?
Ich weiß nicht mehr, wann genau, aber irgendwann dachte ich an Selenskyj und die Ukraine, wenn ich an das Huhn dachte, das in unser Leben gekommen war und das ich in mein Herz geschlossen hatte so wie die Ukraine auch. Waren sie sich nicht ähnlich? Ziemlich allein, zwar nicht ganz verlassen, aber auch nicht sicher. Immer in ihrer Existenz bedroht, zum Kampf gegen den Feind gezwungen. Aber auch zur Improvisation bereit. Lernende in der Einsamkeit.
Der Überlebenswille des Huhnes war offensichtlich. Es lebte nicht nur in den Tag hinein. Jedenfalls wirkte es nicht ängstlich oder deprimiert. Es ließ im wahrsten Sinne des Wortes gerade nicht die Flügel hängen. Denn es hatte eine gewisse Selbstkontrolle, eine Mission: nicht gefressen zu werden. Der Nachbar und ich streuten Futter, doch das Tier war robust. Oft sahen wir es in der Kälte des Winters umherwandeln, immer scharrte es in den Blättern und fand wohl genug zu fressen. Gnädig pickte es ab und an ein Korn, das wir ihm hingeworfen hatten. Und ging weiter seines Weges.
An Selenskyj musste ich unweigerlich denken, denn man musste zu Beginn des Krieges (eigentlich auch jetzt wieder angesichts des amerikanischen Verrats) um sein Leben fürchten. Jeden Morgen im Februar 2022 standen wir auf und hielten den Atem an, ob nicht ein Killerkommando aus Moskau oder Verräter in den eigenen Reihen ihn ums Leben gebracht hätten. Es wäre das Ende der Ukraine gewesen. Der Krieg dauert an, Selenskyj ist gealtert, aber er lebt. Und er und sein Land kämpfen weiter. Sie leben. Wie das Huhn.
Es ist längst bekannt, dass Hühner über Schmerzrezeptoren verfügen und auch Leid empfinden können. Doch kaum jemand hat Mitleid mit ihnen, sind sie doch zu „Dingen“ geworden, „Quasimaschinen“. Anders als bei Schweinen oder Rindern, den großen Tieren, haben wir Menschen kein Mitleid mit den Massen von Hühnern, die wir in Massen halten. Hähnchenfleisch widersteht dem Trend zu weniger Fleischkonsum. Es gilt als „gesund“.
Mit dem Huhn in die Welt sehen
Aber dieses eine, dieses besondere Tier verändert so vieles. Es ist anders. Es hat meinen und des Nachbars Blick auf die Welt verändert. Wir reden voller Zärtlichkeit über dieses Wesen, das uns Rätsel und Offenbarung zugleich ist. Das Huhn hat uns über diesen Winter gerettet. Weil wir seine Resilienz bewundern. Seinen Widerstand. So wie den der Ukrainer. Und wie, ja, wie schafft es das? Die Rasse, so steht es in einschlägigen Dokumenten, ist robust, clever. Das wilde Leben gewohnt, sind die Tiere angstfrei. Weil sie fliegen können. Das Huhn fliegt den Feinden davon, es überlistet sie. Der Nachbar erzählt, dass es ganz oben in einer Kiefer übernachte. So hoch hinaus traut sich nicht einmal ein Marder.
Ich weiß nicht mehr, wie der Wechsel von Januar zu Februar war, von Februar zu März. Ich sehe nur noch das Huhn, das über unsere Wiese stolziert oder im Unterholz scharrt. Als die Amerikaner Selenskyj im Oval Office vor den Augen der Welt demütigten, was hat da unser Huhn getan?
An einem der Tage im frühen Frühling, den der Philosoph Ernst Cassirer eine wunderbare „Stimmung“ nennt, stand das Huhn wie eine Statue am Hang. Ich beobachtete es. Und es mich. Wie auf einem Feldherrenhügel sah es hinab auf sein Reich. Und wirkte wie in Trance. Regungslos. Verschlossen. Ich bin dann immer überwältigt, welche Anmut dieses Tier hat, wenn es auf einem Bein steht.
Am schönsten ist es, wenn es bei der Begegnung gackert. Manchmal dreht es mir sogar in großem Vertrauen den Rücken zu. Wer täte das schon? Und es scharrt, im Gehen, nach hinten die Beine stoßend, so wie in einem ewigen eleganten, barocken Tanz. Man ist geneigt, mitzutanzen, mit dem Hintern zu wackeln wie ein Huhn. Unter dem Laub, auf der Wiese, im Boden liegt das Fressen. In den Flügeln aber ruht die Freiheit.
Aber nichts ist sicher. Nichts ist geschenkt. Wie oft habe ich gebangt. Wie oft bin ich rausgegangen und habe Ausschau gehalten und dann deprimiert zurück ins Haus. Eine ganze Woche war das Huhn weg. Was machte es in der Zeit? Fliegt es andere Häuser an? Ich wurde so traurig, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte. War es gefressen worden, war all die Mühe des Überlebens und Widerstands umsonst gewesen? All unsere Aufmerksamkeit auch? Doch dann sah ich das Huhn wieder. Erst dachte ich, eine optische Täuschung hätte mich überwältigt. Doch es war real. Es lebte. Und schaute mich an wie immer.
Vielleicht hinkt der Vergleich: Aber ich bange um die Ukraine, so wie ich um das Huhn bange. Und umgekehrt. Der Nachbar und wir geben ihm Aufmerksamkeit und Futter: Aber schützen können wir es nicht wirklich vor seinen Feinden. Es ist und bleibt auf sich gestellt.
Man kann sagen, die Russen seien stärker, sie seien letztlich die Sieger. Aber Selenskyjs Resilienz, das Durchhaltevermögen der Ukrainer, sind schon in die Geschichte eingegangen. Wie in unserem kleinen Dorf dieses eine Huhn.
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