Der politische und spirituelle Anführer der Yanomami sitzt zwischen Bücherstapeln und Regalen im Büro der Direktorin. Er trägt einen schwarzen Windbreaker, Brustschmuck und eine Art Krone aus blauen und roten Vogelfedern. Davi Kopenawa spricht nicht allzu schnell. Er wartet geduldig auf den Dolmetscher, der aus dem Portugiesischen ins Englische überträgt. Seine Muttersprache ist Yanomami, aber das kann in Europa kaum jemand.
Seit über vierzig Jahren ist der heute 69 Jahre alte Davi Kopenawa in der Welt unterwegs, um über die Lage seiner Leute und die des Amazonaswaldes zu sprechen. Heimweh nach dem Wald ist ihm dabei nicht fremd, aber das müsse man eben im Griff behalten, sagt er. Wenn er in sein Dorf zurückgeht, dann nie direkt. Immer bleibt er erst einige Tage in der nächsten Stadt. Es klingt wie eine schrittweise Akklimatisierung, ein Wechsel zwischen den Welten. Aber der Amazonas ist eben keine bloße Wildnis.
Dass das Amazonasbecken ein jahrtausendealtes Siedlungsgebiet mit großen Städten ist, das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die man aus der Ausstellung „Amazonias. El Futuro Ancestral“ im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona mitnimmt. Ihre Macher haben Davi Kopenawa eingeladen, um mit der Ethnologin Ana Maria A. Machado über den Schutz des Regenwaldes und der Yanomami zu sprechen.
„Indigene Menschen“, sagt Kopenawa, „haben die westliche Zivilisation für sich entdeckt. Auch Yanomami besuchen die Schule, um Portugiesisch zu lernen und auf Papier zu schreiben. Und sie suchen sich Arbeit, ziehen in die Stadt. Warum passiert das? Weil die weiße Kultur sehr stark ist. Es geht ihnen um Essen, um Beleuchtung, Klimatisierung, Kühlschränke. Auch ich hätte beinahe meine eigene Sprache hinter mir gelassen“.
Als junger Mann hat Kopenawa ein Jahr in Manaus verbracht. Damals wollte er das Leben in der Stadt kennenlernen. Und hat es als „sehr gefährlich“ empfunden: „Die Menschen schliefen auf der Straße und aßen, was sie fanden. Deshalb bin ich zurückgegangen: um meine Leute zu unterstützen. Es ist mir gelungen, zurückzukehren, aber es gelingt nicht allen“.
Die Schau wurde im Amazonasgebiet konzipiert, sie soll nicht wieder den Blick von Außen einnehmen. Fotos von Luis Braga zeigen das neonleuchtenden Manaus der 1980er, das Kopenawa damals kennernlernte. Andere Aufnahmen zeigen Tanzende in Clubs und die Betonwüste von Belém do Parà, der neben Manaus wichtigsten Stadt in Amazonien. Farbenfrohe Kunstwerke und ein Versammlungshaus aus Blättern und Zweigen erzählen von einer Region der Widersprüche, die ganz im Heute lebt und doch eine viele tausend Jahre alte Geschichte hat.
Was ist der Amazonas? Ein Fluss, ein Wald, ein Universum? Als „Region der Superlative“ beschreibt ihn Carlos Valerio Aguiar Gomes im Begleitbuch zur Ausstellung, „aufgrund ihrer biologischen Vielfalt und wegen ihrer soziokulturellen Eigenschaften.“
Die Geschichte des Amazonasbeckens lässt sich als ein Auf- und Ab von rohstoffgetriebenen Boomphasen und Rezessionen beschreiben. Spanier und Portugiesen suchten hier im 16. Jahrhundert nach dem sagenumwobenen Eldorado, den Fluss entdeckten sie eher nebenbei. Die erste europäische Expedition, die dem Amazonas bis zur Mündung folgte, begann 1540 in Quito und erreichte unter Francisco Orellana zwei Jahre und acht Monate später die Mündung. Der mächtige Fluss wurde von Antonio de Saavedra y Guzman im Jahr 1600 in einer hinreißenden, heute in Madrid verwahrten Landkarte dargestellt, die durch ihre ungewöhnliche Ausrichtung erst einmal ungewohnt ist, es aber tatsächlich einfacher macht, den Bezug zwischen Mündung und Quelle des Amazonas herzustellen.
Ganz oben im Bild throhnt die Kolonialstadt Quito auf annähernd dreitausend Metern, darunter windet sich der Amazonas. Dabei wirkt es, als würden seine Arme ein Wurzelgeflecht unter den Häusern bilden und das lebensnotwendige Wasser aus dem Atlantik herausziehen. Dabei ist es natürlich umgekehrt – die Wassermassen entspringen in den Anden und fließen 6400 Kilometer entfernt ins Meer, was den Amazonas gleichauf mit dem Nil zum längsten Fluss der Erde macht.
Die Wassermengen und das Einzugsgebiet des südamerikanischen Flusses aber sind ungleich größer, seine Ufer mit dichtem Regenwald bewachsen –und bewohnt. Eine Karte der indigenen Sprachfamilien Lateinamerikas wirkt wie ein Flickenteppich. Die Yanomami nehmen sich darauf eher klein aus, verglichen mit Tupi und Macro-Jé, mit Quechua und Karib und Aruak – es sind wohl insgesamt nicht mehr als 35.000 Menschen, die man unter Yanomami subsumieren kann. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich über ca. 192.000 Qudratkilometer beiderseits der brasilianisch-venezolanischen Grenze zwischen dem Amazonas und dem Orinoco.
Wie wird man Schamane?
Neunzigtausend Quadratkilometer davon sind in Brasilien 1992 per Präsidialdekret, als „Terra Indígena Yanomami“ (TIY) definiert worden, nach jahrzehntelangem Kampf, angeführt von Davi Kopenawa. Sechzehntausend Menschen leben auf der brasilianischen Seite heute auf einem Areal von der Größe Portugals noch immer wie ihre Vorfahren, als Brandrodungsbauern und als Jäger und Sammler. Es ist ein Erfolg dieses freundlichen, sanften, aber bestimmten Mannes, dessen Name „die Hornisse“ bedeutet. Aber wie wird man eigentlich zum Anführer und Schamanen?
„Als ich drei oder vier Jahre alt war“, erinnert sich Davi Kopenawa, „habe ich zum ersten Mal Yakoana eingenommen. Mein Onkel war Schamane, und er bot mir an, daran zu riechen. ‚Wenn du älter bist‘, sagte er, ‚mit fünfzehn oder zwanzig, dann wirst auch du ein Schamane sein‘. Später erinnerte ich mich an diese Unterhaltung mit meinem Onkel und mir wurde klar, dass jetzt die Zeit gekommen war, Yakoana zu nehmen. Ich fand einen guten Ort dafür. Ich konnte kein Wasser mitnehmen, denn die Berggeister sind anders als die Waldgeister – das Wasser, das sie trinken ist Bienenhonig. Ich durfte nicht im Fluss baden und kein gebratenes Fleisch riechen. Die Xapiri sind besondere Wesen. Sie kommen nicht schnell zu einem. Es braucht Zeit, man muss sich reinigen.“
Xapiri sind eher Ratgeber denn Geister, sie erscheinen einem nach dem Gebrauch halluzinogene Substanzen wie Yakoana, einer Baumrinde. In der sehenswerten Schau dokumentiert eine Fotoserie von Mario Vasconcelos den ritualisierten Gebrauch von Ayahuasca, einer Lianenart, die heute auch unter westlichen Sinnsuchern in Gebrauch ist. Yakoana ist eine Baumart mit dem lateinischen Namen virola elongata. Ihr Harz enthält N,N-Dimethyltryptamin, kurz DMT, und wird in Pulverform geschnupft. Es ist der Wirkstoff, der auch in Ayahuasca enthalten ist und der einen in Kontakt mit den zentralen spirituellen Wesen in der Kosmologie der Yanomami bringen.
Aber wie sehen die Xapiri eigentlich aus? Kopenawa streckt die Hand aus und deutet die Körpergröße eines etwa zehnjährigen Kindes an. „Sie sind nicht groß, aber stark. Sehr stark. Wir fühlen sie, wenn wir die Yakoana-Pflanze einnehmen. Sie sind schön, und sie brauchen einen Platz, an dem sie tanzen können.“ Seine Begegnungen mit den Xapiri beschreibt er als einen spirituellen Unterricht.
Der weiße Mann suchte andere Dinge im Wald als Unterricht in Spiritualität. Die ersten Europäer im Amazonasbeckens waren von dem Reichtum an Nahrungsmitteln, Holz und Naturfasern beeindruckt. „Der Amazonas“, so der brasilianische Archäologieprofessor Eduardo Neves, „existiere vor allem, um Waren aus ihm heraus ins Ausland zu verschicken. Das sei schon zur Zeit der Inka so gewesen. „Ein Teil dieser kolonialistischen Sichtweise ist auf die falsche Vorstellung zurückzuführen, dass Amazonien eine unwirtliche Region ist, die aufgrund ihrer Umweltbedingungen nie dicht besiedelt war“.
Eine Fehlannahme, wie einem die Schau im CCCB vor Augen führt. Neves geht aufgrund der Datenlage davon aus, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts und also vor Ankunft der Europäer in der Großregion Amazonien um die acht bis zehn Millionen Menschen gelebt haben. Aufgrund von Krankheiten, Kriegen und Sklaverei reduzierte sich ihre Zahl. Archäologische Zeugnisse belegen, dass hier schon vor dreizehntausend Jahren menschliche Kulturen existiert haben. Der Waldboden im Amazonasgebiet birgt die Spuren längst vergangener Kulturen. Anders als die steinernen Zeugen etwa der Maya oder der Inka blieben sie unter dem Boden verborgen und sind erst in jüngerer Zeit Dank modernen Technologien wie Lidar entdeckt worden. Mit den Laserimpulsen aus Flugzeugen oder Drohnen lassen sich durch das Blätterdach hindurch 3D-Renderings des Bodens erstellen, ohne graben zu müssen. Ergänzt wird diese Luftaufklärung der Vergangenheit durch moderne Datierungsverfahren etwa von Hölzern.
Die Forschungen legen nahe, dass die Amazonasbewohner sich den Wald mit Gärten und Fischereien urbar machten und darin große, längst verschwundene Städte errichteten. Es wäre die späte Bestätigung eines Berichtes von der ersten Amazonas-Expedition des Francisco Orellana, den Gaspar de Carvajal (1500-1584) verfasste – und der dreihundert Jahre unveröffentlicht blieb. Welche Geheimnisse birgt der Amazonas noch?
„El Futuro Ancestral“ lautet der Untertitel der Schau. Das heisst soviel wie „Die Zukunft der Ahnen“ oder „Die anzestrale Zukunft“. Als Postulat sagt er: Nur wer sich auf die Wurzeln besinnt, kann dem Amazonas eine Zukunft geben. Dazu muss man ihn aber erst einmal am Leben erhalten. Das können die Indigenen besser. Dort, wo Völker wie die Yanomami die Kontrolle über den Wald zurückerhalten haben, fallen die Verwüstungen durch Goldgräber, Sojafarmer und Rinderzüchter deutlich geringer aus, da sie keinen Raubbau betreiben.
Die Yanomami, so beschreibt Kopewani es in seinem 2011 erschienenen, mit dem Ethnologen Bruce Alberts veröffentlichten Buch „Der Sturz des Himmels“, verstanden Mitte des 20. Jahrhunderts weder, wer diese weißen Eindringlinge in ihren Wäldern waren, noch was sie dort suchten. Sie lernten es schnell. Vor allem Goldgräber bedrohen mit ihrer Gewalt und ihren rabiaten Schürfmethoden bis heute den Amazonaswald und seine Bewohner, auch wenn sich ihre Zahl in den Yanomami-Gebieten unter dem von seinem Vorgänger inhaftierten und seit 2023 wieder regierenden brasilianischen Präsidenten Lula da Silva halbiert hat, wie Davi Kopenawa berichtet.
Nicht nur die Umweltzerstörung und die physische Gewalt der Eindringlinge stellt eine Gefahr für die Indigenen dar. Kopenawa hat viele Familienmitglieder durch eingeschleppte Krankheiten verloren. Während einer Tuberkulose-Erkrankung lernte er im Krankenhaus Portugiesisch, wurde Dolmetscher der Funai, der nationalen brasilianischen Behörde für Indigene. Es war der Beginn seiner Mission, die ihn um die halbe Welt geführt hat und nun hierher, nach Barcelona. Sollte man denn überhaupt Menschen ermutigen, die gefährdete Region zu besuchen? Kopenawas Antwort fällt eindeutig aus. „Ich möchte“, sagt der Schamane, „dass Sie den Amazonas besuchen, und die Seele des Amazonas kennenlernen, die so lange gelitten hat.“
„Amazonias. El Futuro Ancestral“, CCCB Barcelona, bis 4. Mai
Bruce Albert und Davi Kopenawa, „Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen“, Matthes & Seitz 2024, 957 S., 38,99 Euro
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