Fische im Aquarium möglicherweise fühlen sich so. Durchsichtig. Jederzeit von jedem beobachtbar. Wir sind unter der Erde. In einem Berliner „Zuhause für Zukunftmacher“. Hier können Menschen zusammenarbeiten, ohne zusammenzuarbeiten. In Glaskabinen. Transparenz ist alles. Privatsphäre wenig. Alle sehen alles. In der Mitte reckt sich – in einem gläsernen Oval – ein Baum mutig an die frische Luft.
Kein ganz schlechter Ort, um über einen Film zu reden, in dem es ums Beobachtetwerden geht und was es mit Menschen, mit Ehen, mit Eltern und Kindern macht. Geschätzt drei Kameras könnten uns in unserer Kabine überwachen, aufzeichnen, was wir tun. Wenn Julia Jentsch kein Handy dabeihat. Dann wären es vier. Sie hat keins dabei. Jedenfalls jetzt nicht.
Julia Jentsch ist Julia in Frédéric Hambaleks „Was Marielle weiß“, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale lief. Die lebt in einer transparenten Welt. Gläsern, offen das Schöner-Wohnen-Haus, das sie mit dem Cheflektor Tobias und ihrer präpubertierenden Tochter Marielle teilt. Gläsern, offen die Räume da, wo sie arbeitet. Gläsern, offen das ganze Leben.
Bis zur Ohrfeige. Marielle hatte ihre Lieblingsfreundin beleidigt. Die hatte zugeschlagen. Seitdem ist alles anders. Marielle ist von da an nämlich überall dabei, wo ihre Eltern sind, sieht, was sie tun, hört, was sie sagen, fühlt, was sie denken.
Frédéric Hambalek kam die Idee, sagt Julia Jentsch, als ihm Freunde mehr oder weniger stolz ihr Babyfon zeigten. Eins, mit dem man nicht nur überwachen konnte, ob das Kind noch atmet oder schreit, sondern dank einer Kamera auch, ob es gerade versucht, aus dem Bett zu krabbeln.
Jeder trackt jeden
Hambalek kehrte die Blickrichtung um. Machte aus Helikopter-Eltern ein Helikopter-Kind. Und dann setzte er seine drei Figuren in ein extrem durchsichtiges Versuchslabor und spielte mit ihnen konsequent durch, welche Folgen ein Übermaß an Überwachung hat. In einer Gesellschaft, in der jeder jeden tracken kann, jeder wissen kann, wo sich der jeweils andere gerade befindet.
Julia Jentsch, Mutter einer Tochter, wohnhaft im Grünen vor Zürich, sagt, sie sei „in technischen Überwachungssachen ziemlich weit hinten“. Und dass sie dieses digitale Elternüberwachungssystem wahrscheinlich verrückt machen würde. Irgendwann, fürchtet sie, wäre man gar nicht mehr in der Lage, nicht hinzuschauen aufs Handy. Wo ist denn jetzt das Kind, was passiert da gerade, „verpasse ich gerade den entscheidenden, gefährlichen Moment? Mich“, sagt sie, „würde das zu sehr unter Stress setzen.“
Die Eltern von Marielle setzt deren gewissermaßen telepathisches Tracking jedenfalls gewaltig unter Stress. Marielle sitzt am Abendbrottisch und weiß, dass ihre Mutter mit ihrem Kollegen ziemlich explizite Sex-Fantasien durchspielt beim Rauchen. Von dem Tobias nichts weiß, der wiederum gespiegelt bekommt, dass er durchaus nicht der harte Hund in Lektoratsrunden ist, den er in der Familie vorspielt.
Was Marielle weiß, erodiert in rasendem Tempo die Beziehungsbasis ihrer Eltern. Die Übereinkunft, auf der ihre scheinbar transparente Liebe beruht. Das Vertrauen ineinander, aber auch das jeweilige Selbstbild voneinander. „Was Marielle weiß“ ist ein extrem irritierendes kleines Meisterstück.
„Die meisten Menschen“, sagt Julia Jentsch, „haben ja schon in sich den Wunsch, der Mensch zu werden, der überall beobachtet werden könnte, den Wunsch sich immer wohl mit sich selbst fühlen, immer zu allem stehen zu können, was man tut. Die Realität sieht nun aber anders aus, deswegen ist man ja auch froh, wenn es unbeobachtete Räume und Momente gibt.“
Hambalek irritiert dieser Wunsch, diese Vorstellung. Und dann, so Jentsch, fängt man sich zu fragen an: „Wie kongruent bin ich mit dem Bild, was ich von mir habe und das ich auch gerne nach außen zeigen möchte? Wie oft bin ich so, dass ich denke, das soll jetzt lieber niemand sehen?“ Die Vorstellung, immer beobachtet zu werden, findet Jentsch, „sehr befremdend und unangenehm“.
Julia und Tobias fangen unter Beobachtung ganz schnell an, inkongruent mit dem zu werden, was sie eigentlich sind, werden für Big Daughter, von der sie wissen, dass sie über sie wacht, was sie vielleicht nicht werden wollen – Julia treibt’s mit dem Kollegen und sagt dabei zu Marielle, dass das ganz natürlich sei. Tobias zieht die chefige Nummer durch bis der Machtkampf im Verlag physisch wird. Sie spielen für Marielle doppelte Spiele, reden Französisch, wenn sie im Schlafzimmer ihre Lage besprechen.
Der Grundfehler der Eltern
Dieses Doppelspiel zu spielen, also eigentlich immer zwei Julias zu sein vor der Kamera, sagt Julia Jentsch, klingt jetzt komplizierter, als sie es in Erinnerung hat. Der Grundfehler von Julia und Tobias, ist sie überzeugt, ist überhaupt, dass sie am Anfang ihrer Tochter nicht glauben und eher zögerlich ihrem plötzlichen Anderssein Respekt zollen. Und dann verunsichert sind und in Panik geraten.
„Wie machst du das“, fragen Julia und Tobias mit durchaus unterschiedlichem Unterton. Sie will wissen, wie man das abstellen, er, wie man das eventuell lernen kann. Und als dann, was schnell geht, Ignorieren nicht mehr möglich ist, sagt Julia Jentsch, geht alles total nach hinten los.
Wenn das so ist, wenn Marielle, das innerfamiliäre Wahrheitsministerium, tatsächlich alles beobachtet, alles weiß, denken die beiden, „ja, dann muss ich jetzt schauen, dass ich alle meine geheimsten Wünsche auslebe. Das funktioniert aber auch nicht lange. Es wird eigentlich immer, immer schwieriger und immer auswegloser.“
Die Beantwortung der Frage, wo das hinführt und was nun besser ist für eine Beziehung – völlige Offenheit oder das Gestatten geheimer Räume – überlässt Hambalek dem Zuschauer. Wie es mit Julia und Tobias weitergeht, bleibt offen. Julia Jentsch und Felix Kramer glauben, dass die beiden sich irgendwie zusammenraufen. Frédéric Hambalek ist da eher skeptisch. Man möchte sich dem Regisseur anschließen, es aber lieber doch nicht so genau wissen.
Daran, in der Öffentlichkeit unter Beobachtung zu stehen, hat sich Julia Jentsch, die ein Theaterstar ist und im Film die Jule war in „Die fetten Jahre sind vorbei“ und Sophie Scholl und Effi Briest und Kommissarin Ellie Stocker neben Nicholas Ofczarek in der Serie „Der Pass“, allmählich gewöhnt. „Ich erinnere mich an Momente, wenn ein Film besonders Wellen geschlagen hatte, dass ich mich mit einer gewissen Unsicherheit bewegt habe, weil ich dachte, ich würde irgendwie komisch angeschaut. Aber das war eher meine innere Wahrnehmung, als dass es wirklich der Realität entsprach.“
Eigentlich, sagt sie, könne sie sich relativ entspannt bewegen. Ein bisschen anders ist es auf Branchentreffs wie der Berlinale, die berufliche Auftritte sind, auf denen sie als private Person eine gute Zeit haben will: „Das ist manchmal immer noch anspruchsvoll.“
Sich selbst auf der Leinwand zu beobachten, war ganz am Anfang schwierig: „Wer ist diese Person“, fragte sie sich beim Anblick von sich selbst. „Was macht die da? Und warum macht die das alles ganz anders, als ich es wollte oder mir das von innen dachte? Warum macht die so komische Bewegungen? Warum klingt die Stimme so seltsam?“
Da war schon ein großes Befremden bei der Begegnung mit dem anderen Selbst. Inzwischen geht es besser. Aber es war ein längerer Prozess. Es brauchte ein paar „automatische Filter, dass ich das schneller abstrahiere und die Geschichte genauer als Ganzes sehen kann“.
Und jetzt muss sie los. Eine Glaskabine weiter. Vor die Kamera. Mit Absicht.
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