Nicht nur der russische Krieg gegen die Ukraine tobt mit unverminderter Härte weiter, auch auf die internationalen Beziehungen des Westens zu russischen Künstlern hat der katastrophische Konflikt nach wie vor seine Auswirkungen. Beinharte Putin-Anhänger wie der Dirigent Valery Gergiev, Petersburger Mariinsky Theater- und inzwischen auch Moskauer Bolschoi Theater-Chef sowie Herr diverser russischer Festivals, will man hier gegenwärtig nach wie vor nicht sehen. Auch nicht den deutschen, längst in Russland lebende Musik-Manager Hans-Joachim Frey, der einst via Dresdner Semperopernball seine Beziehungen zum vormals in Sachsen stationierten KGB-Spion Putin mittels eines Faschingsordens knüpfte. Inzwischen leitet er ein Musikfestival auf der Krim und eine von ihm geführte staatliche Stiftung behübscht klanglich auch dubiose russophile „Friedenskonferenzen“ im Vatikan.
Doch während sich der höchst gefragte Bassist Ildar Abdrazahov wohl wegen unglücklicher Umstände als Staatskünstler profilieren muss und alle Westengagements verloren hat, wird die wegen ihrer naiven Instagram-Nähe zu Putin und seinen Brigaden in Verruf gekommene, dann bekenntnisungenau herumlavierende Starsopranistin Anna Netrebko wieder vermehrt eingeladen. Nach der Berliner Staatsoper hat sie, deren Auftritte immer noch von ukrainischen Protesten begleitet werden, sich neuerlich die Opernhäuser in Zürich und London zurückerobert. Ein Betrieb, der auf immer weniger werdenden bekannte Namen angewiesen ist, braucht auch die auf ihr Karierende zusteuernden Größen.
Auf eine Netrebko kann kaum jemand verzichten. Der Bann unter den Häusern, wo sie schon früher gesungen hat, gilt vornehmlich noch in München und New York; wo sie zudem nach wie vor mit der Metropolitan Opera Rechtsstreitigkeiten austrägt. Doch für eine neue Rolle, wie eben die Amelia in Verdis „Maskenball“, die die dann 54-Jährige eigentlich schon vor zehn Jahren hätte angehen müssen, wird ihr von Neapel bis Paris und Berlin nun wieder der rote Teppich ausgelegt.
Ist der Westen also des Bannens müde? Es ist eher so, dass sich der Klassikbetrieb nach wie vor moralisch indifferent verhält. Ob es nun um Politik oder Moral geht. Selbst für einen eigentlich tollem, aber seit über einem Jahr (von ihm selbst eingestanden) MeToo-belasteten Dirigenten wie François-Xavier Roth ist zwar bei dem von ihm gegründeten Klangkörper Les Siècles kein Platz mehr, nicht einmal auf der Webseite. Aber es erscheinen schon wieder längst aufgenommenen CDs von ihm, der SWR hält trotz versendeter Penisbilder an seinem Start als Chefdirigent zu Beginn der nächsten Saison fest, die Staatskapelle Berlin hat ihn für Juni 2026 engagiert.
Gewerkschaftsregelfreie Arbeitsbedingungen
Sogar Valery Gergiev hat mit seinem Orchester – angeblich wegen anhaltender Publikumsnachfrage – eine Toureinladung für 2026 von seiner dortigen Agentur bekommen. Es bleibt abzuwarten, wie sich der spanische Staat gegenüber diesem Kommerz-Deal verhalten wird, sollte er zustande kommen. Den Gergiev ist wirklich ein unverhohlener Putin-Propgandist. Aber auch in der Schweiz haben Stadt und Kanton Luzern einen dortigen Auftritt Anna Netrebkos gecancelt.
Und dann wäre da auch noch das komplexe Lavierproblem von Teodor Currentzis. Der griechische Dirigent mit russischem Pass hat sich länger schon nach Russland orientiert, weil ihm eben dort die sehr speziellen, gewerkschaftsregelfreien Arbeitsbedingungen für sein eigenes Orchester musicAeterna geboten wurden. Erst in Novosibirsk, dann in Perm, schließlich in St. Petersburg. Und weil er dort auch vermehrt in den Fokus der Politik geriet, die Kultur als weiche Deutungsmacht begreift, saß er nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine in der Falle. MusicAeterna wird von der staatsnahen, im Westen sanktionierten VTB-Bank subventioniert, dafür hat er sich, der konsequent, auch in einem jüngsten, nichts Neues offenbarenden „Spiegel“-Porträt in eine schweigsame Sphinx verwandelt. Denn als heimlichen Putin-Treuen mag man ihn sich einfach nicht vorstellen.
Als Schlüssel in den Westen hat er sich inzwischen ein von dortigen Geldgebern finanziertes Orchester namens Utopia zugelegt. Das ist eigentlich nicht moralisch kontaminiert, freilich weiß man nicht, wer hier wirklich spielt. Über Musikernamen werden keine Angaben gemacht. Mit dieser Truppe nimmt der charismatische, in jedem Fall kontroverse Grieche gegenwärtig Mahler-Sinfonien auf und tourt auch damit. Wer sie etwa auf der aktuellen Konzertreise gerade in der Münchner Isarphilharmonie erlebt hat, der muss sagen, so spielt und ergreift sonst keiner: Zumal Currentzis und der junge Klavierhoffnungsträger Alexandre Kantorov ein grenzgeniales Team bilden.
In Brahms’ zweitem Klavierkonzert wurde aus dem sinfonischsten aller Tastensolo-Orchesterwerke ein wirklicher Pas de Deux zweier gleichwertiger Partner: harmonisch, klangschön, ausbalanciert, in jedem Ton auf das Einzelne wie das Ganze achtend. Da hatten Instrumentalist wie Orchester ihren durch aufregende Details lebendigen Platz. Das mag von einer gewissen Manieriertheit sein, die aber wurde so geschmackssicher ausgekostet, so formvollendet schön, genussvoll und klug zelebriert, dass man fast zu atmen vergaß. Was sich dann im von Liszt noch einmal sublimierten „Liebestod“ auflöste
Nach dem Krieg ein anderer
Und das setzte sich in Mahlers 4. Sinfonie fort, zwischen violinsolounterstütztem Totentanz, heimelig trottendem, dann den Himmel in E-Dur aufreißendem Adagio und doppeldeutig besungenem „himmlischen Leben“ im Finale. Die immer wieder passgenau aus dem wogenden Orchestersatz hervortretende Sopranistin Aphrodite Patoulidou konnte sich als Steigerung danach sogar die vom Konzertmeister begleitete Zugabe von Richard Strauss‘ „Morgen!“ leisten.
Ein Konzert also, das in seiner Eigenwilligkeit wie Vollendung lange nachklingt. Und jetzt stellt sich natürlich die Frage. Will man darauf wegen politisch nicht eindeutiger Positionierung mit Bann reagieren? Jeder Besucher sollte das selbst entscheiden können.
Nur Teodor Currentzis wird es auf Dauer in jedem Fall schaden. Denn der Spagat zwischen den Welten wird schmerzen. Und nach einem Krieg wird er in jedem Fall ein anderer sein. Auch eine Nichtentscheidung ist eine Tat mit Folgen. Vielleicht aber auch macht gerade jener Widerspruch diese in jedem Nervenende ausgereizte Künstlerbegegnung so besonders.
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