Wenn der indische Premierminister Narendra Modi vor heimischem Publikum von der Landessprache Hindi plötzlich ins Englische wechselt, dann hat das etwas zu bedeuten. Kaum ein Anführer des bevölkerungsreichsten Staats der Erde hat so sehr Indiens Eigenständigkeit betont wie der Hindu-Nationalist Modi. Doch bei seiner Rede nach dem Terroranschlag in Kaschmir spricht er plötzlich sehr laut in der Sprache der früheren Kolonialherren.

„I say to the whole world, India will identify, track and punish every terrorist and their backers“, ruft Modi, Indien werde jeden der Terroristen und ihre Unterstützer identifizieren, finden und bestrafen. Der Inder hätte kein Englisch gebraucht, um jene zu erreichen, die er als Hintermänner des Attentats sieht. Im muslimisch geprägten Nachbarland Pakistan, dessen Führung Indien den Anschlag anlastet, spricht man Urdu, das sich von Hindi kaum unterscheidet.

Aber Modi will offenkundig deutlich machen, dass diese Krise die ganze Welt betrifft. Immerhin geht es um zwei Staaten mit zusammengerechnet fast 1,7 Milliarden Einwohnern und 350 Atomsprengköpfen auf beiden Seiten der Grenze. Und das Risiko steigt.

Der Ausflugsort Pahalgam, an dem sich der Anschlag am Mittwoch zutrug, liegt in der zwischen beiden Ländern umstrittenen Region Kaschmir. Hier brachten Bewaffnete eine Gruppe indischer Touristen in ihre Gewalt, trennten Männer und Jungen von den anderen und fragten jeden, ob er Muslim oder Hindu sei. Wer kein Muslim war, wurde erschossen. Am Ende waren 26 Menschen tot.

Die Verantwortung übernahm eine Gruppe namens „The Resistance Front“, Widerstandsfront, eine Ausgründung der islamistischen Terrorgruppe Lashkar-e-Taiba (LeT), Armee der Reinen. Die Rückzugsräume der LeT werden in Pakistan vermutet. Die Miliz stammt aus jenem islamistischen Spektrum, das in den 80er-Jahren mit westlicher Unterstützung gegen die sowjetische Besetzung in Pakistans anderem Nachbarland Afghanistan kämpfte. Im Jahr 2008 tötete sie bei mehreren, koordinierten Terroranschlägen in Mumbai 166 Menschen, darunter auch drei deutsche Touristen im Hotel „Taj Mahal“.

Nachdem die Sowjets vertrieben waren, wandte sich LeT in den 90er-Jahren dem Kaschmir-Konflikt zu – mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes, wie Experten meinen. „Eine Verwicklung pakistanischer Regierungsstellen in den Anschlag wäre zumindest plausibel“, sagt Christian Wagner, Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „In Kaschmir kann nur eine Gruppe wie LeT einen solchen Anschlag begehen und ihre Nähe zu Pakistans Geheimdiensten ist bekannt.“

Angeblich hätten die Angreifer pakistanische Armeemunition verwendet. Zusätzliche Plausibilität erhalte die These dadurch, dass Pakistans Armeechef Asim Munir zuletzt einen konfrontativeren Kurs gegenüber Indien verfolgt habe. „Unter anderem hat Munir erklärt, wenn nötig, werde Pakistan noch zehn Kriege um Kaschmir führen.“ Derzeit sei ein weiterer Waffengang sehr wahrscheinlich, so Wagner.

Drei Kriege um Kaschmir seit 1947

Tatsächlich hat der älteste Konflikt seit Schaffung der Vereinten Nationen schon drei Kriege verursacht. Der Ursprung des Kaschmir-Problems liegt in der Teilung der ehemaligen britischen Kolonie Indien 1947. Dabei sollten die einzelnen Territorien selbst entscheiden, ob sie zum neuen muslimischen Staat Pakistan oder zu einem von Hindus dominierten Indien gehören wollten.

Der Maharadscha von Kaschmir, Hari Singh, beherrschte als Hindu ein mehrheitlich von Muslimen bewohntes Reich. Als sich andeutete, dass er sich Indien zuwenden könnte, brach ein Aufstand los, in dem Muslime in Kaschmir und von außerhalb für einen Anschluss an Pakistan kämpften. Der indische Premier Jawaharlal Nehru bot ein Referendum an, das nie stattfand.

Schließlich erklärte der Maharadscha den Beitritt zu Indien. Da tobte schon der erste pakistanisch-indische Krieg um Kaschmir, weitere sollten 1965 und 1990 folgen. Kaschmir blieb zwischen Pakistan und Indien geteilt und kam unter zahllosen Anschlägen und Militäreinsätzen nie zur Ruhe.

Möglicherweise sei der Anschlag in Kaschmir eine Vergeltungsaktion für die Entführung eines Zuges und der Tötung von 25 Passagieren durch Separatisten in der pakistanischen Provinz Belutschistan. Die Widerstandsbewegung in dem erdgasreichen Landesteil sieht Pakistans Führung als von Indien unterstützt an.

„Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass Pakistans Armee hinter dem Anschlag in Kaschmir steckt“, sagt Wagner. „Allerdings hat LeT in der Vergangenheit teilweise auch autonom oder sogar gegen pakistanische Interessen gehandelt, etwa bei den verheerenden Anschlägen von Mumbai 2008, als die politische Führung Pakistans gerade auf Entspannungskurs gegenüber Indien war.“

Zudem gibt es aktuell hausgemachte Gründe für die Wut unter den muslimischen Kaschmiris, vor allem die Aufhebung des Autonomiestatus im indischen Teil Kaschmirs, die den Zuzug vieler Hindus aus anderen Teilen Indiens erleichterte. Die demografische Verschiebung, auf die in dem Bekennerschreiben Bezug genommen wird, beklagen viele Einwohner.

Indien setzt Indus-Wasservertrag aus

Was diese Runde des Konflikts so brisant macht, ist eine der Vergeltungsmaßnahmen, die Indien nun angekündigt hat – die Aussetzung des Indus-Wasservertrags. Er regelt die gemeinsame Nutzung des Fluss-Systems, das im Himalaja entspringt und über einen kürzeren Teil seiner Strecke Indien durchquert. Vor allem ist der Indus die Lebensader für Pakistans Landwirtschaft und für seine Energieversorgung. Ohne den Fluss fielen 80 Prozent der Lebensmittelversorgung und 30 Prozent seines Stroms weg.

„Es ist noch unklar, was die Aussetzung des Vertrags bedeutet“, sagt Daniel Haines, Forscher am University College London, der ein Buch über die Politik des Indus geschrieben hat. Delhi droht dem Nachbarland bereits mit Austrocknung. „Wir werden sicherstellen, dass nicht ein einziger Tropfen Wasser des Indus Pakistan erreicht“, schrieb Indiens Wasser-Minister C.R. Paatil am Freitag auf X.

Doch Indien könne den Fluss gar nicht kurzfristig umleiten, sagt Haines. „Aber selbst wenn Delhi gerade während der Aussaatzeit die Speicher der Wasserkraftwerke am Indus füllt und das Wasser in Pakistan verknappt, hätte das Folgen für die Versorgungssicherheit in Pakistan.“ Eine andere Möglichkeit: Indien könne Daten über den Wasserdurchfluss am Oberlauf des Indus zurückhalten. Das könne die Vorwarnzeit bei den mitunter verheerenden Fluten im Sommer verkürzen. „Die schlimmsten Fluten der letzten Zeit wurden durch überstarken Regen in Pakistan selbst verursacht“, sagt Haines. „Aber zu wenig Information kann in Zeiten der Flut ein Problem sein.“

Spätestens in einem solchen Szenario könnte Indiens Vergeltung am Indus Todesopfer fordern. Und der Fluss berührt auch die nukleare Dimension des Konflikts. „Pakistans Nuklear-Doktrin ist nicht öffentlich, aber pakistanische Militärs haben in der Vergangenheit erklärt, dass eine Bedrohung der Versorgung durch den Indus ein möglicher Grund für Atomschläge sein könnte“, sagt der deutsche Experte Wagner. „Der Indus ist für Pakistan eine rote Linie.“

Dennoch glaube er nicht, dass es zu einer nuklearen Konfrontation kommen werde. Viel eher sei ein begrenzter Waffengang wie 2019 nach einem Terroranschlag gegen indische Soldaten in Kaschmir. Daraufhin bombardierte Indien erstmals seit dem letzten Krieg pakistanisches Territorium. „Unter dem Druck der Öffentlichkeit kann Modi jetzt kaum weniger tun als 2019 – er muss sogar mehr tun. Was das noch sein kann, ist aber unklar.“ Das sei das Problem im Kaschmir-Konflikt: mit jeder Runde steige das Grundniveau der Eskalation.

Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.

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