Wir hatten Pahalgam besucht und rannten um unser Leben, als der Angriff passierte“, sagt Dobhi Vinobha, eine Touristin aus Gujarat, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs in Baisaran aufhielt zu WELT vor Ort. Sie erlitt leichte Verletzungen und wurde im Krankenhaus von Anantnag behandelt. „Wenn wir nur zwei Minuten länger geblieben wären, hätten wir nicht überlebt.“ Es sei eine schreckliche Situation gewesen, so Vinobha weiter. „Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir sind einfach nur weggelaufen.“

Mindestens 26 Menschen wurden am Dienstag in Kaschmir getötet, darunter 24 indische Touristen, ein Besucher aus Nepal sowie ein Reiseführer. Laut Polizei eröffneten mindestens vier bewaffnete Männer aus nächster Nähe das Feuer auf eine Gruppe von Touristen etwa fünf Kilometer vom Urlaubsort Pahalgam entfernt.

Mindestens 17 weitere Menschen wurden verletzt, viele davon schwer. „Dieser Angriff ist viel größer als alles, was wir in den letzten Jahren an Zivilisten gesehen haben“, schrieb der regionale Regierungschef Omar Abdullah auf X. Die Polizei sprach von einem Terroranschlag militanter Kämpfer, die gegen die Herrschaft Indiens kämpfen. Die Täter sind weiter auf der Flucht.

Der Anschlag lenkt den Blick zurück auf einen der am längsten schwelenden Konflikte der Welt. Seit der Unabhängigkeit 1947 beanspruchen Indien und Pakistan die Region vollständig für sich. In dem von Indien kontrollierten Teil kämpfen seit 1989 bewaffnete Gruppen für Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Pakistan. Neu-Delhi wirft Islamabad Unterstützung der Kämpfer vor, was Pakistan bestreitet.

Indien hat eine halbe Million Soldaten in der Region stationiert und geht dort seit 1989 gegen Rebellengruppen vor. Dabei wurden zehntausende Zivilisten, Soldaten und Rebellen getötet. Die indische Regierung hob 2019 die Teilautonomie des Gebiets auf, seitdem haben die Kämpfe etwas nachgelassen. Im Jahr 2019 wurden bei einem Selbstmordanschlag im indisch verwalteten Teil Kaschmirs mindestens 46 Soldaten getötet, woraufhin Indien Luftangriffe auf Ziele in Pakistan flog.

Nur eine halbe Stunde, bevor bewaffnete Angreifer das Feuer auf eine Touristengruppe auf der Baisaran-Wiese bei Pahalgam eröffneten, war Mukesh Agarwal aus Westbengalen noch mit seiner Familie vor Ort. „Kaum waren wir zurück in der Stadt, hörten wir von dem Angriff und sahen, wie sich Panik über das gesamte Pahalgam-Tal ausbreitete“, sagt er WELT. Der Anschlag – einer der tödlichsten der letzten Jahre – hat die ohnehin fragile Ruhe in der von Konflikten gezeichneten Region erschüttert.

Am Tag nach dem Anschlag verstärkten die indischen Sicherheitskräfte ihre Präsenz in Kaschmir massiv. Zehntausende Polizisten und Soldaten durchkämmten die Region, errichteten zusätzliche Kontrollpunkte und suchten nach den flüchtigen Tätern. In einigen Gegenden wurden ehemalige Kämpfer zum Verhör vorgeladen. Zahlreiche Geschäfte blieben geschlossen – aus Protest gegen die Gewalt und auf Aufruf religiöser und politischer Gruppen hin. Öffentliche Verkehrsmittel fielen aus Angst vor weiteren Angriffen komplett aus. Die Straßen wirkten vielerorts wie ausgestorben. Auch die Märkte in ganz Kaschmir blieben am Mittwoch geschlossen.

„Die Kämpfer kamen aus dem Wald und begannen zu schießen“

Das Distriktkrankenhaus in Anantnag, die wichtigste Klinik der Region, wurde seit dem Morgen besonders stark gesichert. Nur Patienten durften das Gebäude betreten, jeder Zugang wurde von der Polizei streng kontrolliert. Taschen wurden durchsucht, Personal überprüft. Grund für die Vorsichtsmaßnahmen war ein Besuch von Innenminister Amit Shah, der am Nachmittag die Verletzten des Anschlags besuchte.

Ein Augenzeuge, der anonym bleiben wollte, schilderte der Nachrichtenagentur AFP den Vorfall: „Die Kämpfer, ich kann nicht sagen, wie viele es waren, kamen aus dem Wald (...) und begannen zu schießen. Sie verschonten ganz klar die Frauen und schossen auf die Männer, manchmal mit einzelnen Schüssen, manchmal mit vielen Kugeln, es war wie ein Sturm.“ Viele hätten versucht zu fliehen. Pallavi, eine Besucherin aus dem Süden Indiens, sagte, es habe sich „wie ein böser Traum“ angefühlt, als ihr Mann vor ihren Augen und denen ihres Sohnes getötet wurde. Sie seien von „drei bis vier Personen“ angegriffen worden. „Ich sagte ihnen: Tötet mich auch ... Einer von ihnen sagte: ‚Ich werde dich nicht töten. Geh und erzähl das Modi‘“ (Indiens Regierungschef Narendra Modi, Anm. d. Redaktion).

„Die ganze Atmosphäre kippte sofort“

Die Baisaran-Wiese, wegen ihrer alpinen Landschaft auch „Mini-Schweiz“ genannt, ist täglich Ziel von Hunderten Touristen. Pahalgam gilt zudem als wichtiger Ausgangspunkt der hinduistischen Pilgerreise zur Amarnath-Höhle.

Abhiskekh Kakran aus Delhi war zum Zeitpunkt des Angriffs im nahe gelegenen Aru-Tal. „Die ganze Atmosphäre kippte sofort. Wir hatten sogar Angst vor den einheimischen Kaschmiris, obwohl sie uns zu beruhigen versuchten“, sagt er zu WELT. Auch seine Familie reiste umgehend ab – wie viele andere auch.

Sofort kamen die Stornierungen

Arshed Nissar, Mitgründer des kashmirischen Reiseveranstalters TheTravellore, berichtet von einem unmittelbaren Einbruch der Nachfrage: „Seit dem Angriff erhalten wir laufend Stornierungen. Alle Buchungen im April wurden gecancelt, auch für Mai kommen erste Anfragen.“ Dabei galt der Tourismus der letzten Jahre als Hoffnungsträger – von der Regierung gefördert, als Zeichen der Rückkehr zur Normalität. Jetzt droht er erneut zu kollabieren.

Premierminister Narendra Modi verurteilte die Tat als „abscheulich“ und kündigte an, dass die Täter „zur Rechenschaft gezogen werden“. Er verkürzte seinen Besuch in Saudi-Arabien und kehrte umgehend zurück. Innenminister Amit Shah reiste direkt nach Srinagar, wo er Angehörige traf und erklärte: „Wir werden die Täter mit den härtesten Konsequenzen bestrafen.“ Indiens Oppositionsführer Rahul Gandhi warf der Regierung vor, „hohle Behauptungen über Normalität“ in der Region aufzustellen, statt echte Verantwortung zu übernehmen.

Touristen waren in der Vergangenheit nur selten Ziel der Gewalt in Kaschmir. Der schwerste Anschlag der vergangenen Jahre ereignete sich 2019 in Pulwama, als ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug in einen Konvoi rammte – mehr als 40 Sicherheitskräfte kamen ums Leben. In den letzten Jahren verlagerte sich der bewaffnete Konflikt aus dem Kaschmir-Tal in die abgelegenen Regionen Jammu, Rajouri oder Poonch.

Die internationale Reaktion auf den Anschlag fiel deutlich aus. US-Präsident Donald Trump, der gerade neue Zölle gegen Indien ausgesetzt hatte, verurteilte die Tat ebenso wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch US-Vizepräsident J.D. Vance, der sich kurz zuvor mit Modi getroffen hatte und derzeit noch mit seiner Familie Indien bereist, sprach von einem „verheerenden Terroranschlag“. Die Vereinten Nationen betonten, dass Angriffe auf Zivilisten „unter keinen Umständen akzeptabel“ seien.

Indien hatte zuletzt massiv in den Ausbau der Infrastruktur investiert – darunter eine milliardenschwere neue Eisenbahnlinie ins Kaschmir-Tal, deren Eröffnung in den nächsten Wochen bevorsteht. Sie sollte den Tourismus stärken. Im Jahr 2024 kamen 3,5 Millionen Besucher in die Region. Der aktuelle Angriff droht diesen Trend abrupt zu beenden.

Mitarbeit: Bilal Kuchay in Palhagam, Kaschmir

Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.

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