Als die Kreispolizei in Ludwigsburg in Baden-Württemberg vor wenigen Tagen ihre Kriminalitätsstatistik 2024 vorstellte, gab es ein besonderes Alarmsignal. Der deutliche Gesamtanstieg aller registrierten Straftaten im Vergleich zu 2023 ist beunruhigend genug, aber ein Bereich sticht besonders hervor: die Jugendkriminalität.

2024 wurden insgesamt 1226 Kinder unter 14 Jahren mit Straftaten auffällig, ein Anstieg von 231 Personen oder 23,2 Prozent. Die Zahl jugendlicher Tatverdächtiger stieg auf 2067, ein Plus von 238 oder 13 Prozent. „Die zunehmende Jugendkriminalität sowie die immer größer werdende Zahl delinquenter Kinder und Jugendlicher ist ein Problem, das uns weiterhin beschäftigt“, beklagt der Leiter des Polizeipräsidiums Ludwigsburg, Thomas Wild.

Bundesweit wird seit dem Ende der Corona-Pandemie ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen beklagt, der sich nach Ansicht von Kriminologen und Sozialwissenschaftlern nicht mehr allein mit Nachwirkungen aus der belastenden Zeit der Ausgangsbeschränkungen und zeitweisen Schulschließungen erklären lässt.

Auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen fallen immer mehr Kinder und Jugendliche auf, vor allem bei Gewalttaten. 2022 wurde ein Zehn-Jahres-Höchststand erreicht, deshalb lässt die schwarz-grüne Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) im Auftrag des Landtags seit 2023 eine sogenannte Dunkelfeldstudie zur Entwicklung der Kinder- und Jugenddelinquenz erarbeiten.

Polizeistatistiken zeigen das Hellfeld mit registrierten Straftaten, eine Dunkelfeldstudie versucht, mit anonymen Befragungen weiter hineinzublicken in den Bereich unentdeckter Straftaten und dabei auch die Bereitschaft zur Kriminalität in der Gesellschaft zu verstehen. An der Universität Köln kümmert sich unter Leitung von Professor Clemens Kroneberg ein Team von Wissenschaftlern des Instituts für Soziologie und Sozialpsychologie um die Studie für das Land NRW.

Dafür wurden im Herbst/Winter 2024 mehr als 3700 Schülerinnen und Schüler in 7. und 9. Klassen an 27 weiterführenden Schulen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen, Gymnasien) in drei Städten des Ruhrgebiets – Gelsenkirchen, Herten und Marl – freiwillig befragt und mit ähnlichen Studien von 2013 und 2015 verglichen. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte in den 7. Klassen wuchs von 46,9 Prozent 2013 auf 70,2 Prozent 2024. Auch in der 9. Klasse ist eine deutliche Steigerung zu verzeichnen: von 49,6 Prozent im Jahr 2015 auf 65,5 Prozent im Jahr 2024.

Nun liegen erste zentrale Ergebnisse in einem 122-seitigen Zwischenbericht mit zahlreichen Diagrammen vor. Im Zehnjahresvergleich hat es demnach deutliche Veränderungen gegeben. Es zeige sich zwar eine „weitgehende Gesetzestreue“ bei der „überwiegenden Mehrheit der befragten Jugendlichen“, betonen die Wissenschaftler – wobei dieser Anteil von ungefähr 85 Prozent auf unter 75 Prozent in den 7. Klassen gesunken ist. Etwas abgeschwächter ist das für die 9. Klassen zu beobachten.

Andererseits: „Der Anstieg der Jugenddelinquenz ist auch im Dunkelfeld nachweisbar“, lautet eine zentrale Erkenntnis. Demnach haben Häufigkeit und Bereitschaft in Bezug auf Eigentums- und Gewaltdelikte, etwa Sachbeschädigung, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung, Raub und Nötigung, deutlich zugenommen, ebenso wie Mehrfach-Täterschaften. Das heißt, es werden nicht einmalig, sondern wiederholt Delikte begangen.

Zudem hat die moralische Ablehnung von strafbarem Verhalten insgesamt abgenommen. Um die moralische Einstellung zu messen, wurden Schüler gefragt, wie schlimm sie folgendes Verhalten fänden: „Mit dem Fahrrad über eine rote Ampel fahren“ oder „Die Hausaufgaben nicht machen“, „Cannabis rauchen“, „Einen Mitschüler so schlagen, dass er oder sie blutet“, „Lehrer anlügen, ihnen nicht gehorchen oder frech zu ihnen sein“ und weitere Aussagen.

Besonders auffällig: Der Anstieg der Gewaltbereitschaft und -häufigkeit bei Mädchen ist stärker ausgeprägt als bei Jungen. Ähnlich ist es beim impulsiven Verhalten: „Verglichen mit der Erhebung vor circa zehn Jahren finden wir im 7. und im 9. Jahrgang einen statistisch signifikanten Rückgang der selbst eingeschätzten Selbstkontrolle. Dieser Trend ist bei den Mädchen stärker ausgeprägt als bei den Jungen“, heißt es im Zwischenbericht.

Die Selbstkontrolle wurde gemessen anhand der Zustimmung zu Aussagen wie: „Ich denke nie darüber nach, was in Zukunft mit mir passieren wird.“ – „Ich handle oft spontan, ohne lange nachzudenken.“ – „Mir wird schnell langweilig.“ – „Ich verliere ziemlich schnell die Beherrschung.“ –„Manchmal finde ich es aufregend, Dinge zu tun, die gefährlich sein könnten.“

„Verhaltenserwartungen an Mädchen ein Stück geändert“

Sinkende Selbstkontrolle, Abnahme moralischer Hemmschwellen und häufigere psychische Probleme könnten weitere Anhaltspunkte für die steigende Bereitschaft zu Eigentums- und Gewaltdelikten sein. Gegenüber WELT nennt der Kölner Professor Kroneberg einige grundsätzliche Einschätzungen: „Die von vielen Studien dokumentierte hohe Intensität der Smartphone-Nutzung und des Konsums von Social Media ist für die Entwicklung von Selbstkontrolle sicherlich nicht förderlich. Auch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben die Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen negativ beeinflusst.“ Insofern verwundere es ihn nicht, wenn auch die sozialen und emotionalen Kompetenzen im Durchschnitt zurückgegangen seien.

Auch über die besondere Auffälligkeit von Mädchen hat sich Kroneberg Gedanken gemacht. „Allgemein haben sich die spezifisch an Mädchen gerichteten Verhaltenserwartungen auch ein Stück weit geändert, was das Unterdrücken oder den Ausdruck von Aggression angeht.“ Der Einfluss von Eltern und Lehrkräften sei heutzutage noch geringer, da sich Jugendliche nicht nur an Gleichaltrigen, sondern auch an Social-Media-Inhalten orientierten. „Gerade hier sind Mädchen besonders aktiv und unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Was dort als cool erscheint oder Respekt oder Likes einbringt, kann teilweise stark von früheren Geschlechternormen abweichen“, erklärt Kroneberg.

Dem Aspekt Migration wird im Zwischenbericht auch eine Bedeutung beigemessen, wobei zunächst darauf hingewiesen wird, dass es in der Forschung „keinen Hinweis auf einen starken und konsistenten Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität“ gebe. Bei der Befragung der Schüler kam in diesem Zusammenhang heraus, dass bei Jugendlichen, die im Ausland geboren wurden, die Häufigkeit und Bereitschaft zu Straftaten gesunken ist, während sie bei denen, die in Deutschland geboren sind, gestiegen ist. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass sich die Zusammensetzung der in Deutschland geborenen Schüler verändert hat, weil etwa die Anzahl der Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gestiegen ist.

Nach bisherigen Erkenntnissen trägt nur eine kleine Minderheit der Befragten ein Messer bei sich. Die sei aber, so die Studie, nicht zu vernachlässigen, denn durchschnittlich hätten von 100 Schülern im Jahrgang ein bis zwei Personen eine Stichwaffe bei sich, um sich zu schützen. Über einen längeren Zeitraum bestehe jedoch das Risiko, dass es in Einzelfällen zu einem Einsatz von Messern kommt, wenn Konflikte eskalieren, heißt es im Zwischenbericht.

Es wird noch eine Weile dauern, bis die Auswertung der Dunkelfeldstudie abgeschlossen ist. Eine neue Befragung der 7. Klassen und erstmals auch 6. Klassen im Winter 2025/2026 ist geplant. Studienleiter Kroneberg nennt einige Möglichkeiten, wie sich diesen negativen Entwicklungen begegnen ließe: „Es gibt spezielle Trainings für die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen, wie Empathie, Selbstkontrolle und kommunikativer Konfliktlösung. Diese sind ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn sie regelmäßig und dauerhaft integriert werden.“

Als „zentral“ bezeichnet der Sozialwissenschaftler auch die Stärkung von Schulen. „Wir beobachten in unserer Studie, dass sich Jugendliche gerade im Schulkontext weniger an Regeln gebunden fühlen und dass sie von einem weniger respektvollen Umgang an ihrer Schule berichten als noch vor zehn Jahren. Die Herausforderung besteht darin, Schulen dabei zu unterstützen, als Sozialisationsinstanz wirken zu können“. Dies sei letztlich eine Ressourcenfrage – in anderen Worten: Es geht um mehr Personal und mehr Geld.

Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, vor allem in NRW.

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