Wir sind noch einmal davongekommen: Das war wahrscheinlich das vorherrschende Gefühl nach dem Ende von zwölf Jahren Naziherrschaft im Mai 1945. Jedenfalls war es der Titel eines viel gespielten Theaterstücks der frühen Nachkriegsjahre. Eigentlich hieß es ganz anders: „The Skin of our Teeth“. Der Autor Thornton Wilder hatte es bereits 1942 herausgebracht.

Aber die Deutschen widmeten das Drama, das von der Überwindung dreier Katastrophen in einer amerikanischen Familie handelte, einfach um. Sie schnitten es auf ihre Verhältnisse zu und schöpften neuen Mut zu einer der größten Leistungen der neueren Geschichte. Jawohl, was das deutsche Volk nach einer bedingungslosen Kapitulation, inmitten der Ruinen seiner Städte, geplagt von ständigem Hunger, dazu konfrontiert mit 14 Millionen Flüchtlingen aus den verlorenen Ostgebieten des Reiches, in jenen Jahren zustande brachte, muss den Nachgeborenen auch heute noch den Atem verschlagen.

Man kann davon mit Pathos erzählen, auch mit Wehmut in Erinnerung an einen Elan, der im heutigen Deutschland unvorstellbar ist. Man kann es aber auch mit lakonischer Gelassenheit erzählen, „flott und augenzwinkernd“, wie der Autor an einer Stelle seines weltgeschichtlichen Kaleidoskops einmal im Hinblick auf den Regisseur Billy Wilder sagt. Der begann im Sommer 1945 mit der Arbeit an dem vielleicht schönsten Film, der noch im kriegszerstörten Berlin spielt: „A foreign affair“ („Eine auswärtige Affäre“). 1948 wurde er, mit Marlene Dietrich in einer ihrer ganz großen Rollen, uraufgeführt.

„Flott und augenzwinkernd“: Das ist das stilistische Markenzeichen der historischen Collagen von Oliver Hilmes. Er hat es in seinem Buch „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal angewendet und landete damit prompt auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Er hat es mit „Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe“ 2023 perfektioniert. Und nun umgreifen seine mit Anekdoten gesättigten Streifzüge auch die außerdeutschen Belange.

Denn 1945 ist Deutschland naturgemäß nicht mehr das Maß aller Dinge für seine Bewohner. Was sich in Washington und London, in Moskau und Paris abspielt, ist mindestens ebenso wichtig geworden. Und so beginnt „Ein Ende und ein Anfang“ denn auch in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Einen Tag vor der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation in Reims zieht der neue Präsident Harry Truman um: „Das neue Domizil ist eine Bruchbude“, schreibt Hilmes, „es bedarf dringend der Renovierung. Die Rede ist vom Weißen Haus“.

Wenn das nicht symbolisch ist! Und nicht nur für den heutigen Leser. Der Autor zeigt hier, dass auch in anderen Breiten ein Neuanfang vonnöten war. Die Alte Welt ist im Sommer 1945 nicht nur für Deutschland untergegangen. Oder für andere Verlierer des Krieges wie Japan, dem eindrucksvolle Passagen dieses Buches gewidmet sind – sie kulminieren in der gruseligen Episode vom rituellen Selbstmord mit dem Schwert („Seppuku“), zu dem sich der japanische Kriegsminister am 14. August bemüßigt fühlt.

Die Potsdamer Konferenz

Natürlich, die Konferenz von Potsdam im Juli, welche Europa neu aufteilt; die Atombombe im August, die eine neue Eskalationsstufe in der Vernichtung menschlichen Lebens anzeigt; nicht zuletzt die Beendigung eines Weltenbrands, genau sechs Jahre nachdem Nazi-Deutschland ihn am 2. September 1939 gelegt hatte: Das sind die Eckpfeiler jenes Sommers, der hier im Mittelpunkt steht. Und sie werden so mustergültig herausgemeißelt, wie man es von einem promovierten Historiker erwarten kann, der über neue Forschungsliteratur souverän verfügt.

Doch wie schon Hilmes’ Interesse für den „Seppuku“ bezeugt – an Lebendigkeit gewinnt auch seine Darstellung der Großereignisse durch die kleinen, aber vielsagenden Dinge am Rande. Dass Stalin beispielsweise in Potsdam 62 (!) Villen für seine Delegation requirieren ließ, dass die westlichen Staatschefs beständig auf den Mann warten mussten, der sich auch in diesem Umfeld als Diktator gebärdete. Oder dass, entgegengesetzte Richtung, ein bei den wichtigen Konferenzen ausgeschlossenes Frankreich zumindest die Genugtuung der Prima lectio bei Ausrufung des alliierten Sieges erhielt. Am 8. Mai wandte sich der General de Gaulle, der nie in eine Kampfhandlung verwickelt war und dem Krieg von London aus beigewohnt hatte, mit bebender Stimme via Rundfunk an sein Volk: „Voici la victoire“: Hier spricht der Sieg.

Doch der eigentliche Reiz dieses historischen Bilderreigens, die eigentliche Stärke auch des Autors, der sich stilistisch erfreulicherweise weniger an Fachhistorikern als an Autoren wie Kurt Tucholsky oder Erich Kästner geschult hat, das sind die Geschichten von Leben und Überleben der Normalsterblichen, auch der sogenannten kleinen Leute, deren Spuren Hilmes unter anderem im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen gefunden hat. So kann er sein Buch zum Beispiel anhand der Aufzeichnungen einer Elise Tietze aus Berlin-Steglitz strukturieren, deren Warten auf den vermissten Sohn die Geschichte dieses Sommers durchzieht und ihr eine Spannung verleiht, die die bekannten historischen Großereignisse kaum vermitteln könnten.

„50 Jahre, bis Berlin enttrümmert ist“

Durchgängig ist auch, was der Dirigent Leo Borchard in jenen Wochen erlebt. Er, der zusammen mit der Publizistin Ruth Andreas-Friedrich und seiner Frau der Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ angehört hatte, war Leiter der Berliner Philharmoniker nach dem Krieg. Die Vorbereitung des legendären ersten Konzerts im Titania-Palast (heute ein Einkaufszentrum) ist ebenfalls ein symbolisch zu verstehendes erzählerisches Mittel. Dass dieses Konzert, das übrigens mit der Sommernachtstraum-Ouvertüre des zwölf Jahre lang verbotenen Felix Mendelssohn-Bartholdy begann, bereits am 26. Mai, also keine drei Wochen nach der totalen Niederlage, stattfinden konnte, gleicht einem Wunder.

Wie hatte seinerzeit der nachmals berühmte Architekt Hans Scharoun prophezeit? Bis Berlin enttrümmert sei, würden wohl fünfzig Jahre vergehen. „Und dann kann der Aufbau beginnen.“ Auch Thomas Mann im kalifornischen Exil mutmaßte am 12. Mai, noch lange werde es in Deutschland kein öffentliches und kulturelles Leben, auch keinen Rundfunk geben. Irrtum! Am selben Tag strahlte der Berliner Rundfunk wieder seine erste Sendung aus. Und schon wenig später sendete er durchgängig. Am 17. Juni spielten wieder 30 Kinos. Einen Monat darauf eröffneten die ersten Restaurants. Brigitta Mira gab in der Revue „Rosen auf den Weg gestreut“ den Schlager des Sommers zum Besten: „Berlin kommt wieder, / das ist das Lied, das jeder singt, / und das jetzt wieder / so schön in ganz Berlin erklingt.“

Wahrlich, man kann nur staunen. Und über vieles andere auch, was dieses so unterhaltsame wie lehrreiche, so anschauungssatte wie menschlich kluge Buch präsentiert. Und nach der Lektüre möchte man sich verneigen vor unseren Ahnen, die diese Zeit mitgestaltet haben. Sie waren noch einmal davongekommen. Sie hatten nichts. Aber sie gaben alles.

Oliver Hilmes: „Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte“. Siedler, 287 Seiten. 25 Euro

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