Er verabschiedete sich „pathetisch“: mit der 6., ebendiesen Beinamen tragenden Sinfonie von Peter Tschaikowsky. Obwohl es gar nicht so programmatisch gemeint sein soll. Aber, selbst wenn er es selbst verneint, ein wenig soll Wien schon spüren, dass der Schweizer Choreograf Martin Schläpfer nach fünf Jahren als Staatsopernballettdirektor mit sich im Reinen ist. Wenn auch nicht unbedingt mit der komplexen, launischen Kunstmetropole, in der es der Tanz immer besonders schwer gehabt hat. Gerade, wo man sich besonders modern dünkt, ist man hier in vielem hinterher.

2020 fing mit Martin Schläpfer an der Wiener Staatsoper – erstmals überhaupt – ein wirklich erstklassiger Choreograf als Ballettchef an. Der aus einer Appenzeller Bauernfamilie Stammende hatte als Tänzer bei Heinz Spoerli in Basel, aber auch international – bis nach Kanada – Karriere gemacht. Zudem war er seit 1994 erfolgreicher Choreograf und Ballettdirektor, erst beim Berner Ballett, dann formte er das Ballettmainz und das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg zu international renommierten Compagnien. Er kann auf mehr als 80 Choreografien zurückblicken, wurde vielfach ausgezeichnet.

Zunächst wurden er und seine Kompanie in den kontaktlosen Corona-Jahren 2020 und 2021 extrem hart getroffen. Seine erste Uraufführung, Mahlers 4. Sinfonie, konnte nur via Stream herauskommen. Wobei sich viele seiner Anhänger schon vorher gefragt hatten, warum sich der in seinen letzten Düsseldorfer Jahren amtsmüde, vom Administrationsbetrieb angeödete, beim Antritt über 60-jährige Choreograf diese Herausforderung noch einmal angetan hatte.

Erbe der Puppenfee

Das Wiener Staatsballett ist klassisch orientiert, Schläpfers Vorgänger, der Pariser Ex-Étoile Manuel Legris, hatte eine elegante, aber ausdruckslos museale Tanzschule mit spießig-gestrigen Klassikerinszenierungen etabliert. Die Kompagnie spielt gegenüber den Belangen der Oper immer nur die zweite Geige, und das Ballettpublikum ist beinhart konservativ. Es giert vor allem nach hübsch ausgestatteten Handlungsballetten – das hat Tradition seit einem der wenigen Wiener Tanzwelterfolge, der „Puppenfee“ Josef Haßreiters von 1888. Während Martin Schläpfer für einen abstrakten, energetischen, auch eigenwilligen Stil steht, stets Individuen mit starken Persönlichkeiten statt uniformer Gruppen als Staffage für virtuose Soli inszeniert und gerne zeitgenössische Komponisten vertanzt.

Und trotzdem: Martin Schläpfer schmiss sich in die Aufgabe, an der er nur scheitern konnte. Er führte ja zudem noch das Ballett der Volksoper mit eigenen Abenden sowie die Ballettschule, die kurz vor seinem Antritt von einem MeToo-Skandal erschüttert wurde. Wie es auch auf vorherigen Posten seine Art gewesen war, bereicherte er das Staatsballett um vielfältige Positionen der klassischen Moderne, von Robbins, Cunningham, van Manen, Kylián, Lucinda Childs bis Marco Goecke oder Alexei Ratmansky. Er selbst choreografierte für das Neujahrskonzert und mehrmals für den Opernball; etwa den Kaiserwalzer zum Strauss-Jahr – freilich in ebenso eigenwilligen Bewegungsarrangements wie unkonventionell geometrischen Kostümen.

Schläpfer hat sich vielfach hier eingebracht, mit Abendfüllern wie Haydns „Jahreszeiten“ und Tschaikowskys „Dornröschen“ sowie einem Beethoven-Abend, mit Neueinstudierungen aus seinem reichen Œuvre wie auch kleineren Stücken etwa von Schostakowitsch. Gedankt wurde es ihm wenig, auch die Kritik reagierte meist angefressen, man beklagte gar „zu viel Schläpfer“.

Der Choreograf als Direktor

Dabei war gerade das doch die Marke und der Auftrag, mit der sich das Wiener Staatsballett neu profilieren wollte. Steht doch hier, wie nur noch bei wenigen Kompanien im deutschsprachigen Raum, ein bedeutender Choreograf auch als Direktor an der Spitze – und nicht nur ein Ex-Tänzer oder Manager, wie sie inzwischen von München über Stuttgart, Dresden, Leipzig bis Amsterdam, Paris, London, Mailand, Petersburg und Moskau die berühmten Kompanien mit austauschbaren Programmen ausstatten. Wo hingegen noch Choreografen an der Spitze wirken – in Hamburg mit Demis Volpi, in Berlin mit Christian Spuck oder in Zürich mit Cathy Marston – gehören sie eher zur zweiten Garnitur.

Auf Schläpfer folgt 2025/26 mit der Ex-Tänzerin Alessandra Ferri eine Stardirectrice, die vornehmlich einkauft, aber eben keine für Wien individuelle Schöpferin. In ihrer ersten Spielzeit gibt es nur Stangenware von anderswo, nichts wird selbst kreiert. Und alle Schläpfer-Werke fliegen – was für ein Umgang mit Steuergeldern – postwendend aus dem Repertoire. Auch dieser letzte, immerhin elfmal gespielte Dreiteiler.

Trotzdem ging es jetzt „ohne Reue“, aber eben pathetisch für Martin Schläpfer in Wien zu Ende. Er kombinierte eine seiner typischen Tripple Bills. Es beginnt unter der sorgfältigen musikalischen Leitung von Christoph Altstaedt mit „Divertimento Nr. 15“ in elegant weißblauen Kostümen. Für eine kleine Besetzung schuf George Balanchine 1956 ein duftig neoklassisches Mozart-Ballett von höchster Raffinesse, stets auf Augenhöhe mit der Musik. Wo die Gruppe lächelnd unabhängig von den fünf Solistinnen und drei Solisten in immer neuen, nie selbstgefälligen, scharf gezirkelten und doch liebeswürdig abgerundeten Arabesken geführt ist. Die Abstraktion des 19. Jahrhunderts aus dem Geist der Petersburger Ballettklassik.

Es folgt Merce Cunninghams nur zwei Jahre jüngeres, aber völlig anders anmutendes, eminent sprungfreudiges „Summerspace“ auf disharmonisch perlende Klavierduomusik von Morton Feldman. Sechs Barfußtänzer bewegen sich ohne jede Hierarchie scheinbar zufällig durch den Raum. Hier wird das Abstrakte ohne jeden Verweis mit den bisweilen widerstreitenden Mitteln des 20. Jahrhunderts gestaltet.

Auf eigener Umlaufbahn

Ist „Pathétique“ danach die Synthese? Zur hochdramatischen, leise verhauchenden Tschaikowsky-Sinfonie choreografiert Martin Schläpfer noch einmal für die große Truppe von 45 Mitwirkenden ein von emotionalen Höhenflügen und tiefen Einbrüchen geprägtes Bekenntniswerk. Er hat das Stück schon mal in Mainz vertanzt, aber davon sei in diesem zweiten Anlauf nichts geblieben, wie er sagt. Thomas Mika hat ihm in Fetzen hängende blaugraue Bildbegrenzungen geschaffen, Catherine Voeffrays Kostüme bieten unterschiedlichste Looks in Glitzerschwarz und -silber oder grauen Flatterkaftans. Ein Paar trägt schwarzes SM-Dress, er (der langjährig treue Marcos Menha) liegt am Ende zuckend am Boden.

Martin Schläpfer setzt Spitzenschuh und Schläppchen ein. Große Gruppen und kleine Ensembles erobern sich und gliedern den Raum. Immer wieder tauchen Anspielungen auf große Klassiker auf – „Schwanensee“, „Giselle“, der Blaue Vogel aus „Dornröschen“ als Männertrio. Sie verhuschen dann, sind vom Wind der Zeit wie von dem trotzig martialischen oder nostalgisch walzernden Musikstrom verweht wie fortgerissen. Es geht leidenschaftlich und resigniert zu, auch witzig. Die Körper fliegen und krümmen sich, werden groß, machen sich klein. Auch eigene Werke zitiert Schläpfer spukhaft. Es wird ein steter Fluss der Bewegung, der immer neuen, anderen Arrangements, assoziativ, musikalisch; in der Tradition, jedoch auf eigener Umlaufbahn. Typisch Schläpfer eben, immer zweifelnd, aber auch losgelassen, um sich dem Flow hinzugeben. Und in jedem Fall: etwas sehr Eigenes.

Und nun, nach Wien? Will er sich einen Hund kaufen und in sein neues Haus im Tessin ziehen. Zunächst ist eine kreative Pause angesagt. Eine choreografische Zukunft lässt er offen, aber unterrichten will er. Martin Schläpfer ganz ohne neuen Tanz? Das mag man dem nun wirklich freien, auch wieder frei denken könnenden 66-Jährigen eigentlich nicht auf Dauer abnehmen.

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