Ich trinke fast jeden Abend Wein. Nicht nur ein Glas, sondern meist zwei, manchmal auch drei. Wenn es bei einem Dinner hoch hergeht, kommt schonmal mehr hinzu – so lange, bis ich merke, das reicht jetzt. Reichen tut es, wenn ich schlagartig müde oder in einer Weise unkonzentriert werde, die ich als unangenehm empfinde. Doch soweit lasse ich es meist gar nicht erst kommen, denn ich trinke pro Schluck Wein mindestens ein Glas Wasser. Aber Wasser ohne Wein? Oder gar Wein ohne Alkohol, wie er jetzt überall gepriesen wird? No way.

Ich verwehre mich damit dem neuesten Apokalypsetrend, den wir jetzt neben all den anderen Schreckensnachrichten überall lesen: Achtung vor Alkohol! Jeder Schluck ist Wein zu viel! In einem einzigen Feierabendbier lauern Krankheit und Tod! Alkohol ist ein Zellgift und fördert Krebs! Die WHO und Herr Lauterbach wollen Warnhinweise auf Flaschen drucken. Kleben also bald Fotos von Fettlebern und großporigen Saufnasen auf Veuve-Clicquot-Etiketten? Während es dank der Cannabis-Legalisierung immer mehr Menschen mit Psychosen und Drogenproblemen gibt und nachweislich giftige E-Zigaretten als akzeptabler Marlboro-Ersatz gelten, ist Alkohol nun das neueste Teufelszeug. Sechstausend Jahre Weinanbau hatten also Unrecht.

Dabei wäre es doch eine lutheranisch-linksinhärente Logik, dass da, wo die Welt morgen zugrunde geht, man sich heute noch mit Apfelwein betrinken würde? Aber nix da. In einer Zeit, in der trotz Weltuntergangsstimmung Unsterblichkeit angestrebt wird und Selbstoptimierung Teil der angesagten Longevity-Industrie ist, gehört es neuerdings zum strammen Programm von Yoga, Meditation, veganen Bowles und Matcha-Hafermilch-Latte, dem ich gar nicht mal abgeneigt bin, keinen Alkohol mehr zu trinken. Wo Experten nun festgestellt haben, dass jeder Schluck das Leben verkürzt, ist Abstinenz das nächste Gebot in der Selfcare-Bibel.

In einer Zeit, in der der Kirche die Mitglieder davonlaufen, nähert man sich damit also – bewusst oder unbewusst – dem islamischen Alkoholverbot an, was irgendwie ganz gut zu dem Mindset von woken, westlichen Menschen passt, die sich in Verachtung sämtlicher dionysischer Freuden gern in einer Gruppenzwangsjacke im moralgrün gefärbten Camouflagemuster sehen oder gleich mit einer Kufiya. Es ist, als wollten sie den mit einst blutigen Kämpfen entfachten Geist des selbstbestimmten Denkens und Handelns buchstäblich wieder zurück in die Flasche drängen – ein Mechanismus der freiwilligen Unterwerfung, den Erich Fromm schon 1941 in seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ erklärte.

Doch Menschsein heißt, Eigenverantwortung zu übernehmen, im besten Sinne von Kants Kategorischem Imperativ. Dazu gehört auch, in Maßen und ja, auch manchmal maßlos zu genießen, weil Endorphine nun einmal gut für Geist und Körper sind.

Ich trinke Wein, weil ich mit dieser Kultur aufgewachsen bin. Meine Mutter ist eine exzellente Köchin, und seit sie ab den Achtzigerjahren die französische und italienische Küche auf unseren Esstisch zauberte, gehört für meine Eltern der Wein immer dazu – und das nicht etwa an der Mosel oder im Elsass, sondern in einem Braunschweiger Neubaugebiet unweit eines Zuckerrübenfelds. Bald nach dem Abitur zog ich nach Italien, und wenn es Menschen gibt, bei denen Wein zum Leben gehört, ohne jemals wirklich betrunken zu sein, dann dort.

Ende der Neunziger kam ich nach Berlin, wo alle Drogen nahmen und tagelang durchfeierten, aber ich trank weiter Wein oder damals auch Cocktails, wurde irgendwann müde und ging ins Bett. Bis heute ist das so: Wenn ich zwischen einem weinseligen Abendessen mit Freunden und einer unübersichtlichen Tanzfläche voller zugedröhnter fremder Menschen wählen muss, wähle ich das Essen.

Ich sehe auch gar nicht ein, warum ausgerechnet ich als Kunsthistorikerin der uralten Kultur des Weintrinkens abschwören sollte. In der christlichen Ikonographie gehört der Wein nun einmal dazu, ebenso wie er in der griechischen Mythologie verankert ist und in der Genremalerei allemal. Was wären Caravaggio und Rubens ohne Bacchus, Vermeer ohne im Licht schimmernde Weingläser, Breughel ohne Saufgelage? Ganz abgesehen von der Feierkultur, die zur Kunst nun mal dazugehört: Will man sich das Pariser Café de Flor ohne Picasso, Camus und Simone de Beauvoir vorstellen, die Cedar Tavern in New York ohne Pollock und de Kooning, die Paris Bar in Berlin ohne Daniel Richter und Isa Genzken? Die Art Basel ohne Champagner, die Biennale von Venedig ohne Spritz?

Unabhängig von den exzessiven Kunstpartys, die heute wegen Geldmangels, Grapschverbot sowie allgemeiner Abnutzungserscheinungen nicht mehr ganz so ausschweifend sind wie einst: Ich mag einfach den Geschmack und die belebende Wirkung von Roero Arneis, Ribolla Gialla und kalifornischen Chardonnay, wie überhaupt so vieles, was mineralisch oder nach Eichenfass schmeckt. Mit Riesling und Sauvignon Blanc kann man mich dagegen jagen, ebenso wie mit halben Sachen wie Pinot Noir, denn bei Rot ist mir ein runder Rioja Reserva am liebsten oder ein Zweigelt Barrique, jedenfalls nichts mit zu viel Säure.

Was die Menschen in den blauen Zonen wissen

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin überhaupt keine Weinexpertin. Ich habe nur irgendwann gemerkt, was mir schmeckt und bekommt. Das war schon der Fall, bevor die düsterste aller Zeiten ausgerufen wurde und man allen Grund hätte, sich mit egal was zu betrinken.

Derweil ist der Freundeskreis meiner Eltern proportional zu ihrem Alter stetig angewachsen. Zu einem Haufen fröhlicher Pensionäre, die gemeinsam kochen, essen, feiern, verreisen und viel guten Wein trinken, kamen immer mehr Jüngere hinzu, darunter ein stets jugendlich herumspringender, champagnergebräunter Weinhändler, der stramm auf die 70 zugeht und sich selbst sein bester Kunde ist – was so ziemlich allen Theorien widerspricht, Menschen würden im Alter immer einsamer, zurückgezogener und miesepetriger werden. Das allabendliche Glas Wein gehört bei allen dazu. Sie stoßen auf diejenigen an, die schon immer eher wenig tranken, dafür mehr Golf und Tennis spielten und in den letzten Jahren gestorben sind, was an Unfairness kaum zu überbieten ist.

Heute sind meine Eltern 80 und 85 Jahre alt, kerngesund, sehen locker zwanzig Jahre jünger aus und fühlen sich auch so. Meine Omi, die mit meiner Mutter vor den Russen aus Oberschlesien flüchtete und in ihrem Leben weder Krankheiten noch Kopfschmerzen oder gar Depressionen hatte, trank jeden Abend ein großes Glas Rotwein und schlief vor drei Jahren mit knapp 98 friedlich ein.

Insofern ist es gar nicht erstaunlich, dass ausgerechnet die Gegenden, in denen die Menschen am ältesten werden – und die passenderweise „blaue Zonen“ genannt werden – berühmt für ihre Schnaps- und Weinproduktion sind. Es kann einem schließlich keiner erzählen, dass die Greise auf Sardinien nicht regelmäßig Vermentino trinken oder Ikarias Inselälteste dem Pramnios abschwören, der mit seinen bis zu 20 Prozent schon bei Homer in der Ilias und Odyssee vorkommt, gepriesen von Dionysos und von Circe als Verführungstrank ausgeschenkt. Und auf Okinawa, wo weltweit die meisten Hundertjährigen leben, wurde mit dem 40-prozentigen Reisgetränk Awamori die älteste Spirituose Japans erfunden.

Was all diese Senioren auszeichnet, ist, dass Trinken bei ihnen zur Geselligkeit gehört, die man mit Freunden und Familie teilt. Man lebt zusammen, bewegt sich jeden Tag ein bisschen an der frischen Luft und ernährt sich regionsgemäß leicht und gesund. Wenn man dort, aus der von Feinstaub, Stress und Social Media umflorten Selbstoptimierungsblase kommend, etwas von Weinkonsum als Todesurteil erzählt, dürfte man ein mildes Lächeln ernten, gepaart mit einem zum Wohl erhobenen Glas.

Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Es kann ja jeder selbst entscheiden, ob er trinken will oder nicht. Natürlich gibt es Menschen mit Alkoholproblem oder einer Historie damit – ich kenne einige, die wirklich keinen Tropfen mehr anrühren dürfen. Aber Trinken per se als Gift abzutun, gehört für mich zu der panischen Selbstkasteiung, die man allen aufzwängen will, die auch gerne schöne Autos fahren. Aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Ich trinke weiter Wein und fahre, wenn ich nicht das Rad nehme, weiterhin meinen alten Mercedes SLK. Es muss ja nicht gleichzeitig sein.

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