Gewalttätige Jugendliche, autoritär regierte Wohnsiedlungen und ein zerstörter Planet: In ihrem Romandebüt "Schweben" entwirft Amira Ben Saoud eine gespenstische Zukunftsvision, von der die aktuelle Welt nicht weit entfernt zu sein scheint.
Die Erde ist nach einer globalen Katastrophe verwüstet, der Klimawandel längst vollzogen. Die Menschen, die die große Hitze überlebt haben, leben in abgeschotteten Kolonien. Der Kontakt zu Personen in anderen Siedlungen ist verboten. Globalisierung war einmal. Wer versucht, sich Wissen anzueignen oder Dinge über die Vergangenheit zu erfahren, wird bestraft. Gewalt existiert nicht mehr - zumindest offiziell. Doch im Geheimen gibt es sie noch. Physische und psychische Gewalt ist unter Jugendlichen zu einer Art subkulturellem Aufbegehren gegen das strenge System geworden.
In diese dystopische Vision einer nicht allzu fernen Zukunft setzt Autorin Amira Ben Saoud die Protagonistin ihres Debütromans "Schweben". Der Name der Ich-Erzählerin ist unbekannt, sie kann sich selbst nicht an ihn erinnern. Zu lange schon arbeitet sie als "Begegnungen"-Dienstleisterin. Ihr Job: in die Rollen anderer Menschen schlüpfen. Ihre eigene Identität: nur noch eine vage Erinnerung.
Ihre Auftraggeber sind Menschen, die nicht über den Verlust der Geliebten, der Tochter oder der Ehefrau hinwegkommen. Akribisch bereitet sie sich auf die Rollen vor, um äußerlich und charakterlich ein nahezu perfektes Ebenbild abzugeben. Tote spielt sie nicht. Auch Sex gehört nicht zu ihrem Angebot. Es geht vielmehr darum, Beziehungen nachzustellen.
Für ihren aktuellen Kunden imitiert sie dessen Ehefrau Emma - und droht, sich in deren rätselhafter Geschichte zu verlieren. Gleichzeitig gerät die Ordnung in der Kolonie ins Wanken. Menschen scheinen plötzlich abzuheben und über den Boden zu schweben. Und außerhalb der Siedlungsmauern ereignen sich rätselhafte Phänomene, die auf den Untergang des Systems hinzudeuten scheinen.
In der Schwebe
Atmosphärisch dicht und mit einer beklemmenden Ruhe lotet Ben Saoud in ihrem Roman die Grenzen des Möglichen aus; spielt mit Realität, Fiktion und dem Verschwimmen von beidem. Und sie zieht immer wieder Parallelen zu unserer gegenwärtigen Welt.
Da sind etwa die Figuren in der Siedlung, die das vermeintliche Schweben ihrer Mitmenschen unhinterfragt glauben. Selbst dann, wenn sie selbst es gar nicht gesehen haben. Die Autorin zielt damit unter anderem auf die Verbreitung von Verschwörungsmythen ab, wie sie im Gespräch mit dem österreichischen Radiosender FM4 sagt: "Es gibt genug Wahnsinn, der nicht möglich ist, an den sehr viele Leute sehr bereitwillig glauben, weil das ihnen halt ins Konzept passt."
Doch das Motiv des Schwebens spiele noch eine andere Rolle, wie sie erzählt. "Man kann das sehr positiv sehen, als sich über die Dinge erheben oder eine Art von Befreiung. Man kann das aber auch sehr negativ lesen, als in Unsicherheit sein." Und tatsächlich fühlt sich das Lesen dieses Romans teilweise wie ein Schwebezustand an. Was ist wahr und was nicht? Und was spielt sich wirklich außerhalb der Kolonie ab? Vieles bleibt letztlich unbeantwortet.
Einfach weitermachen
Ben Saouds wohl stärkster Verweis auf unsere Gegenwart ist allerdings der auf die Klimakatastrophe. Die hat in "Schweben" das Leben auf der Erde komplett auf den Kopf gestellt. Und trotzdem haben die Menschen scheinbar keinen besonderen Sinn für Gemeinschaft entwickelt. Im Vordergrund stehe eher das eigene Überleben, sagt die Autorin im Gespräch mit Bettina Wörgötter, Lektorin beim Zsolnay-Verlag. "Warnsignale werden einfach ausgeblendet, wenngleich sie quasi übernatürliche Ausmaße annehmen. Gerade im Hinblick auf die Klimakatastrophe unterscheiden sich die Menschen in 'Schweben' überhaupt nicht von uns."
Wie wollen wir als Menschheit mit den globalen Zerreißproben unserer Zeit umgehen? Wie können wir systemischer Gewalt und der Wucht der Natur begegnen? Und wie geht Leben, wenn alles droht, auseinanderzubröckeln? Das Buch stellt fundamentale Fragen und wühlt auf.
"Mir ist lieber, den Leuten gefällt es nicht, es hat aber irgendeine Art von Impact", als dass "sie es total lieben und gleich vergessen", sagt Ben Saoud bei FM4. "Ich wollte lieber etwas, wo die Leute sich oft denken, what the fuck?! Die nervt! Die ist böse! Aber wo man dann zehn Tage später noch mal an einen bestimmten Aspekt denkt und das in einem arbeitet, das dann irgendwas mit einem macht."
Und das ist ihr gelungen: "Schweben" ist ein packender, dicht erzählter und teilweise unbequemer Roman; ein Roman, der aufwühlt und überrascht - und der auch nach seinen 188 kompakten Seiten noch lange nachhallt.
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