Hitlisten sind im Theater ungewöhnlich. Während beispielsweise die vom British Film Institute herausgegebene Zeitschrift „Sight & Sound“ schon seit 1952 die Kritikerschar nach den besten Filmen aller Zeiten befragt, bleibt das Theater in der Jetztzeit verhaftet. Bei der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ wird nur nach den Besten der vergangenen Spielzeit gefragt. Kein Wunder: Filme kann man immer wieder anschauen, während im Theater die Stücke irgendwann vom Spielplan verschwinden und nur gelegentlich als unscharfer Videomitschnitt mit gruseligem Ton überhaupt weiterleben.

Das Internetportal Nachtkritik, das täglich Theaterkritiken aus dem gesamten deutschsprachigen Raum veröffentlicht, hat nun mit den Gewohnheiten gebrochen. 37 Kritiker, die regelmäßiger auf der Seite veröffentlichen, haben sich beteiligt, um ihre 100 besten Theaterabende des 21. Jahrhunderts zu benennen. Alles, was nach dem 1. Januar 2000 Premiere feierte, durfte genannt werden. Aus den Rückmeldungen ist eine Hitliste entstanden, die das Magazin diese Woche veröffentlichte. Die Nummer 1: Frank Castorfs monumentaler „Faust“, ein achtstündiges Eintauchen in Goethes Klassiker.

„Faust“ war 2017 Castorfs großer Abschied von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Wieder einmal legte Castorfs die untergründigen Strömungen der klassischen Literatur frei und zeigte am Beispiel Faust, wie der Wille zur Welteroberung darin mündet, sich ganze Erdteile und die Frauen zu unterwerfen. Mit „Faust“ steht Castorf nicht nur auf dem Gipfel der Bestenliste, mit „Die Brüder Karamasow“ (97.), „Erniedrigte und Beleidigte“ (52.) und „Der Idiot“ (27.) sind auch mehrere seiner legendären Dostojewski-Abende vertreten.

Auf noch mehr Nennungen als Castorf bringt es der vergangenes Jahr gestorbene René Pollesch: Auf Platz 4 ist „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“, gefolgt von seinem letzten Stück „ja nichts ist ok“ auf Platz 20 (beide mit dem großartigen Fabian Hinrichs), dazu noch „Stadt als Beute“ (39.), „Ein Chor irrt sich gewaltig“ (80.) und „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ (99.), wieder mit Hinrichs. Das zeigt, welche Bedeutung Pollesch für die Theaterästhetik der vergangenen 25 Jahre hatte und vor allem welche herausragende Bedeutung er insbesondere in der Kritikerwelt hatte.

Viermal ist Christoph Schlingensief vertreten, mit „Hamlet“ (92.), „Bitte liebt Österreich“ (62.), „Via Intolleranza II“ (51.) und „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (12.). Unter den Top-Namen sind auch Christoph Marthaler und Herbert Fritsch, mit drei beziehungsweise zwei Platzierungen. Nimmt man noch Vegard Vinge und Ida Müller mit ihren zwei Abenden dazu, so handelt es sich bei den Genannten allesamt um Künstler, die regelmäßig unter Castorf an der Volksbühne gearbeitet haben. Tatsächlich wird die Bestenliste vom erweiterten Kosmos der Berliner Volksbühne fast beherrscht.

Unter den Top 10 finden sich mit Christopher Rüpings 10-Stunden-Spektakel „Dionysos Stadt“, Karin Beiers Theatermarathon „Anthropolis I-V“ und Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“ auch die großen Hits der vergangenen Jahre, die auch beim Theatertreffen für Begeisterung sorgten. Es sind aber mit „Die Möwe“ und „Onkel Wanja“ auch zwei späte Tschechow-Abende von Jürgen Gosch dabei, die in ihrer reduzierten und konzentrierten Art und Weise ans Existenzielle rührten. Jeder dieser Abende hat eine Qualität für sich, die man nur schwer in einem Ranking abbilden kann.

Und natürlich kann man sofort nach den Abenden fragen, die fehlen. Peter Steins „Wallenstein“ mit Klaus Maria Brandauer nicht unter den besten 100? Nichts aus dem Spätwerk von Luc Bondy? Warum so viel aus Berlin? Gab es in den vergangenen 25 Jahren wirklich nichts aus München, was der Bestenliste würdig gewesen wäre? Warum so viele Theatertreffenhits aus jüngster Vergangenheit und wenig aus der Fläche? Das liegt wohl an den beteiligten Kritikern, darunter ein erst 2001 geborener Theatertreffenjuror. Gewisse biografische Beschränkungen spiegeln sich am Ende in der Auswahl wider.

So erfüllt die Bestenliste ihren Zweck: Man kann sich darüber streiten. Ist Nicolas Stemanns „Faust I+II“ nun besser oder schlechter als Yael Ronens „The Situation“? Oder Milo Raus „Five Easy Pieces“ im Vergleich zu „Extra Life“ von Gisèle Vienne? War „Die Räuber“ wirklich der beste Abend von Ulrich Rasche? Zwar ist jedes Kunstwerk unvergleichlich. In seiner Einzigartigkeit will es trotzdem unvergesslich werden, wie alle Kunst. Auch das Theater, das so schnell vergessen zu werden droht. Und so hat die Bestenliste noch einen allerletzten schönen Zweck: Man wird an all die Abende erinnert, die man unwiederbringlich verpasst hat und die man nun auch nie wieder sehen können wird. Keine Bestenliste lässt vergessen, dass das der große Unterschied zum Film ist.

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