Wenn die Reichen mit dem Boot von der Insel Ko Samui abfahren, ist es kein Abschied für immer. Denn die vierte Staffel der Sky/Wow-Hitserie „White Lotus“ ist bereits angekündigt. Zu Ende ging es am Montagabend mit der Ausstrahlung der achten Folge der dritten Staffel nur mit dem Thailandurlaub – und dem ein oder anderen Leben. Das Erfolgsrezept des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Mike White besteht darin, ein doppeltes Whodunit (verborgen bleibt bis zum Ende nicht nur, wer der Mörder, sondern auch, wer die Leiche ist) in verschiedene Urlaubsresorts (erst Hawaii, dann Italien, jetzt Thailand) mit jeweils neuer Besetzung zu verlegen.

Jeder Urlauber trägt ein Geheimnis mit sich herum, das nach und nach entblättert wird, bis es schließlich im großen Finale zur Eskalation kommt. Warum zieht die „Eat the rich“-Satire so viele Menschen weltweit in ihren Bann? Ein Erklärungsversuch in neun Schritten, inklusive aller Kontroversen. Nur der letzte Punkt enthält größere Spoiler zur letzten Folge.

Endlich ältere Frauen

Es ist der amerikanischen Serie an sich und insbesondere Schöpfer Mike White zu verdanken, dass ältere Schauspielerinnen nicht mehr ausrangiert werden, sondern bedeutende Rollen angeboten bekommen. Die Renaissance der älteren Frauenfigur erlebte nicht zuletzt mit Jennifer Coolidge als Millionärin Tanya McQuoid aus den ersten beiden „White Lotus“-Staffeln einen Höhepunkt. In einer Golden-Globe-Rede, die White zum Weinen brachte, dankte die 63-jährige Coolidge dem Regisseur dafür, sie gesehen und ihr Leben verändert zu haben: „Du weckst in den Menschen den Wunsch, länger zu leben!“ Tanya war die einzige Person, die aus der ersten in die zweite Staffel hinübergerettet wurde, wo sie dann letztendlich einen tragischen Diventod starb.

Die neue Staffel wartet mit der fast ebenso überschwänglich gefeierten Parker Posey als Lorazepam-abhängige Mutter mit Südstaatenakzent auf, die unfreiwillig die klügsten Sätze der Serie sagen darf. „Kein Mensch hat jemals besser gelebt als wir. Dann ist es doch das Mindeste, dass wir es genießen. Alles andere wäre eine Beleidigung. Eine Beleidigung für all die Milliarden Menschen, die nur davon träumen können, eines Tages so zu leben wie wir“, bemerkt sie und kommentiert damit nicht nur das boomende Genre der Reichen-Satire, sondern treibt ihrem Mann (Jason Isaacs) den Schweiß ins Gesicht, der ihr seinen Bankrott bislang verschwiegen hat.

Das Inzest-Tabu

In einem Interview mit dem „New Yorker“ erzählt der offen bisexuelle Regisseur Mike White, dass er dem Argument seines Vaters, Schwule immer gut darzustellen, nicht folgen wolle. Schon in der ersten Staffel von „White Lotus“ musste der schwule Hotelbesitzer dran glauben, in der zweiten Staffel war es eine ganze Horde geldgieriger Schwuler, die es auf die Heldin Tanya abgesehen hatten und ihr somit zum wohl beliebtesten Satz dieser Staffel verhalfen: „Diese Schwulen versuchen, mich umzubringen!“ Am Ende trieben sie alle, Tanya und die Schwulen, als Leichen im Wasser.

Die dritte Staffel übertrumpft nun jene eigentlich kaum zu überbietende Volte noch einmal, indem sie eine andere rote Linie überschreitet: das Inzest-Tabu. Das Verhältnis der Brüder Lochlan (Sam Nivola) und Saxon (Patrick Schwarzenegger) ist von Anfang an sexuell aufgeladen, aber dabei belässt es White nicht. Ebenso wenig wie White ältere Frauen weder romantisiert noch verteufelt, geraten seine homosexuellen Figuren nie einseitig.

Kontroverse um die Titelmelodie

Eine der größten Kontroversen betraf die neue Titelmelodie. Fans vermissten das tanzbar-rauschhafte „ooh-loo-looo-loo“ der ersten beiden Staffeln, für das der chilenische Komponist Cristóbal Tapia de Veer bereits drei Emmys gewann. Die neue Titelmelodie ist ruhiger und mysteriöser. De Veer, der für beide Versionen verantwortlich ist, gab nun bekannt, dass er gehofft hatte, die längere Version mit der bekannten Melodie der ersten Staffeln würde im Lauf der Serie eingearbeitet werden. Als dies nicht geschah, veröffentlichte er die Langversion auf YouTube. Aufgrund von kreativen Meinungsverschiedenheiten mit Mike White erklärte der Musiker nun, für die vierte Staffel nicht mehr zurückzukehren.

Monolog des Jahres

Selbst Zuschauer, die einen Qualitätsabfall der neuen Staffel im Vergleich zu den vorhergegangenen feststellten, mussten zugeben, dass Sam Rockwells Monolog über die Frage, was Begehren ist, zu dem Besten gehört, was man seit Langem im Fernsehen gesehen hat. In einer Bar nippt der Waffenhändler an einem Tee, während er bekennt: „Mir wurde klar, selbst nach einer Million Frauen wäre ich nie zufrieden. Vielleicht ist mein Wunsch eigentlich, eine von diesen Asiatinnen zu sein ... Ich habe mir in den Kopf gesetzt, dass ich wirklich eines dieser asiatischen Mädchen sein wollte, das gefickt wird ... von mir, und das zu fühlen.“ In der Schilderung seiner autogynophilen Neigungen (wenn einen die Vorstellung von sich selbst als Frau erregt) nimmt der Mann kein Blatt vor den Mund.

Wo andere um Zeitgeistigkeit bemühte Serien etwa Transpersonen ins Zentrum rücken, wird „White Lotus“ spezifischer, origineller, zugleich abseitiger und abstrakter. Das Gefühl des kontrollierten Kontrollverlusts lotet Mike White auch in anderen, vielleicht nachvollziehbareren Konstellationen aus: dem Urlauben, Meditieren und Beten. Ein weiterer Monolog über den Cuckolding-Fetisch (wenn einen die Vorstellung der Partnerin mit einem anderen Mann erregt) fällt in dasselbe Register: die Sehnsucht nach regulierter Demütigung.

Revolution der Zahn-Ästhetik

Inmitten von Botox und gemachten Gesichtern sticht die britische Schauspielerin Aimee Lou Wood (Chelsea) so aus dem Geschehen hervor wie ihre Zähne aus ihrem Mund. Kaum ein Körpermerkmal hat jemals so viel mediales Aufsehen erregt wie Woods große Schneidezähne, die aufmacherlange Feuilletonartikel nach sich zogen, die debattierten, ob Woods Mut zur Natürlichkeit eine neue ästhetische Ära einläuten oder im Gegenteil das naive Lolita-Ideal verstärken würde.

Ideal der Versöhnung

Die „Eat the rich“-Struktur gibt eine Eskalationslogik vor, die mit dem heilen Schein beginnt und mit der absoluten Katastrophe endet. Bemerkenswert ist jedoch, wie Mike White jenes Prinzip zwar anwendet, gleichzeitig aber auch unterwandert. Am Ende steht in „White Lotus“ nämlich nie die Trennung oder die Entzweiung, sondern stets die Versöhnung. Selbst sich noch so toxisch verhaltende Freundinnen oder Verlobte dürfen sich am Ende in den Armen liegen und gemeinsam auf die Scherben blicken, die jetzt vor ihnen liegen.

„Wir sind eine starke Familie“, sagt Patriarch Timothy Ratliff (Jason Isaacs) – und obwohl er eine Tochter hat, die anfängt zu weinen, weil das Essen im buddhistischen Kloster zwar vegetarisch, aber nicht Bio ist, obwohl seine Frau zugibt, ohne Geld nicht leben zu können, und das einzige Charaktermerkmal seines Sohnes die Arbeit in den Fußstapfen des Vaters ist, hat er irgendwie recht. Genauso wie Kate, die den Sinn des Lebens in ihren lebenslangen Freundschaften erkennt, egal, wie problematisch sie zwischendurch auch erscheinen: „Ich brauche keine Religion oder Gott, um meinem Leben Sinn zu verleihen. Denn die Zeit gibt ihm Sinn. Wir haben dieses Leben gemeinsam begonnen … Und ich sehe euch an und es fühlt sich bedeutsam an.“

Moderne Hermeneutik

Kaum eine Serie beeinflusst die mediale Berichterstattung so sehr wie „White Lotus“. Viele Zeitungen veröffentlichten wöchentliche Rezensionen zu jeder einzelnen Folge. Die Charaktere inspirierten nicht nur die Feuilletons, sondern auch Wissenschaftsjournalisten, die die Serie zum Anlass nahmen, sich mit dem Medikament Lorazepam, Inzest unter Geschwistern, Schönheitsoperationen und der Psychologie der Dreierfreundschaft auseinanderzusetzen.

Derweil überboten sich in den sozialen Medien die Spekulationen, wer am Ende sterben muss und wer zum Mörder wird. Von skurrilen Überinterpretationen (die Affen greifen zur Waffe) bis zum aufmerksamen Verfolgen von Vorausdeutungen (Chelseas Goldkette, die Inszenierung der drei Geschwister als „Hear No Evil, See No Evil, Speak No Evil“-Symbol), machten sich die Fans eine moderne Hermeneutik des Ostereierfindens zu eigen, die Mike White – ähnlich wie Popstar Taylor Swift in ihren Liedern – beherzt aufgreift und durch bewusste Setzungen provoziert.

Zeitgeistige Gegenwartsmarker

Wer unsere Zeit verstehen will, muss „White Lotus“ schauen. Zeitgeistige Gegenwartsmarker wie Proteinshakes, Yoga-Einheiten und Sternzeichen-Ketten sind über den sonnigen Thriller verteilt wie die „Suizid-Früchte“ über den Hotel-Pool-Steg. In der ersten Staffel lehnte Mike White die Millennial-Freundinnen Paula und Olivia (Sydney Sweeney) sogar an die Moderatorinnen Anna Khachiyan und Dasha Nekrasova des Podcasts „Red Scare“ an, die mit ihrem belesenen Zynismus eine post-woke Haltung vertreten.

Amor Fati (Vorsicht, Spoiler!)

„Amor Fati“, also „Liebe zum Schicksal“, heißt die finale Folge, die einer Maxime des Philosophen Friedrich Nietzsche Tribut zollt. In der Serie spricht die naiv-gutgläubige Chelsea (Aimee Lou Wood), die ihren Rick (Walton Goggins) bedingungslos liebt, selbst wenn der sie immer wieder in Lebensgefahr bringt und ihre Liebe nicht zu schätzen weiß, dieses Konzept explizit an. Chelsea repräsentiert eine Ja-Sagerin, die das Leben umarmt – mit allen Problemen, die dazugehören.

Damit stellt sie ein optimistisches Gegenkonzept zur strategischen Paar-Dynamik der zweiten Staffel dar (ebenso wie zur nihilistisch-sinnentleerten Portia oder der zynischen Olivia). Dass Chelsea für ihre Güte mit dem Tod bestraft werden muss, war unausweichlich. White spielt sogar damit, den „Menschenfreund“ Lochlan, der es in einer Familie voller Narzissten allen recht machen will, zu opfern, besinnt sich aber noch rechtzeitig. Dabei wäre der Doppeltod der zwei Gutmenschen Chelsea und Lochlan sicherlich das stärkere Ende gewesen.

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