Ob ihr Roman auch in Deutschland ein Erfolg wird? Die niederländische Autorin Sacha Bronwasser (56) steckt die Gabel noch mal tief in den Salat, der auf ihrem Teller liegt. Ein grünes Blatt, dünn geschnittene Rote Bete. „Das sollten Sie meinen Verleger fragen“, antwortet Bronwasser mit einem Lächeln. Wir treffen uns in Leipzig, am Rande der Buchmesse. In den Niederlanden war „Luister“ (wörtlich: Hör zu) mit 120.000 verkauften Exemplaren ein Überraschungsbestseller. Die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Was du nie sehen wirst“ ist im Arche-Verlag erschienen (übersetzt von Lisa Mensing. 311 Seiten, 24 Euro). In der Geschichte dreht sich alles ums Schauen und Sehen – auf Niederländisch: kijken en zien. Wie verschieden beide Arten der Wahrnehmung sein können, weiß Bronwasser nur zu gut – als Kunsthistorikerin hat sie 20 Jahre lang bildende Kunst für die Tageszeitung „de Volkskrant“ rezensiert.

„Was du nie sehen wirst“ wird aus der Perspektive von Marie erzählt, einer Frau, die erfährt, dass sich unter den Opfern der Terroranschläge in Paris im Jahr 2015 auch ihre ehemalige Dozentin Flo befindet. In den 1980er-Jahren war Marie als schüchternes Mädchen aus der niederländischen Provinz an einer Kunsthochschule in der Großstadt gelandet und hatte in Flo ihr Vorbild gefunden. Doch nach einem Vorfall brach Marie ihr Fotografiestudium Hals über Kopf ab und wagte einen Neuanfang als Au-pair in Paris. Die Geschichte handelt davon, wie viel Zeit es Marie kostet, um zu verstehen, was sie durch Flo gelernt hat: Wenn man zu nah an den Ereignissen steht, kann man zwar gucken, aber um wirklich zu sehen, muss man diesen berühmten einen Schritt zurücktreten, und der ist oft erst im Nachhinein möglich.

WELT: Frau Bronwasser, ist Ihnen dieser Unterschied zwischen Schauen und Sehen in Ihrem eigenen Studium beigebracht worden?

Sacha Bronwasser: Die Lehrstunde, in der die Dozentin Flo ihre Studenten darin unterrichtet, wie sie ihre Welt registrieren, wurde mir so konkret nie zuteil. Aber im Grundsatz wurde uns das alles beigebracht: Beschreibe mal ein Gemälde. Was siehst du? Du kannst auf die Komposition achten, auf Blickrichtungen, auf die Farbbehandlung, auf das Thema, auf den Lichteinfall. Ähnliches habe ich jahrelang für die Zeitung gemacht. Marie bekommt in dieser Stunde auf der Kunsthochschule von Flo die Instrumente, mit denen sie später zurückschlägt. So habe ich das Thema in diesem Roman einsetzen wollen. Übrigens habe ich die Szene erst in der letzten Phase des Schreibens nach vorn geholt, womit sie zum Motto der Geschichte wurde.

WELT: Die Entscheidung, die ganze Geschichte von Marie erzählen zu lassen, verleiht ihrem Roman etwas Reduziertes. Die kargen Dialoge und sogar die Actionszenen bekommen dadurch, und auch wegen Ihrer bildreichen Sprache, etwas Träumerisch-Poetisches.

Bronwasser: Ein deutscher Kritiker schrieb, die Figuren wirkten isoliert. Das stimmt, glaube ich. Man sieht alle Figuren so, wie Marie sie sieht. Bei manchen meiner Kurzgeschichten hatte ich große Lust, mehr Dialoge zu schreiben. Aber zu „Was du nie sehen wirst“ passten Dialoge nicht richtig. Die Erzählung ist ein Rückblick, und sie wäre unglaubwürdig, wenn Marie sich an komplette Dialoge von vor dreißig Jahren erinnerte.

WELT: Ein niederländischer Kritiker schrieb: Ihr Roman sei ganz wesentlich einer über das Verlangen. Würden Sie dem recht geben?

Bronwasser: Ich fand das schön, weil man daran nicht sofort denken würde. Meines Erachtens ist es kein Buch über Liebesbeziehungen. Allerdings enthält es schon ein gewisses Sehnen. Marie möchte beispielsweise sehr gern weg von dem Ort, an dem sie geboren wurde. Und die Episode in der Kunsthochschule, wo Flo sie irgendwie erzieht und dann hereinlegt, wird gekennzeichnet von Maries Verlangen, dazuzugehören. Als sie als Au-pair in Paris eintrifft, steht sie wieder bei null. Mit kleinen Schritten – dem Erkunden der Metropole, dem Kinder-Kennenlernen, der französischen Sprache – kommt sie voran. Meiner Meinung nach ist Marie unerschütterlich, genau wegen dieses Verlangens.

WELT: Sehnt sie sich letztlich danach, sich an Flo zu rächen?

Bronwasser: Ja, wobei ich Rache ein zu großes Wort finde. Als sie erfährt, dass Flo bei den Terror-Attentaten in Paris betroffen ist, reist sie in die französische Hauptstadt. Doch hätte das Unheil verhindert werden können? Vielleicht, aber sicher wissen wir es nicht.

WELT: In der Hochschule wurde Marie Opfer eines grenzüberschreitenden Verhaltens. Sie wollten eine MeToo-Situation darstellen, aber keine übliche?

Bronwasser: Genau, das kam mir langweilig vor. Dann hätte ich ausführen müssen, was der Leser bereits erwartet. Um grenzüberschreitendes Benehmen hat es viel Aufregung gegeben. Das Anschreien in den Medienredaktionen zum Beispiel (beim öffentlichen Rundfunk und Privatsendern in den Niederlanden hat es die vergangenen Jahre verschiedene Skandale gegeben um Fälle von Demütigung, Einschüchterung oder sexueller Belästigung in Redaktionen, Anm. d. Red.) wurde lange gar nicht groß wahrgenommen. So etwas gehörte einfach zur Arbeit. Grenzüberschreitendes Benehmen ist etwas, das meist nicht plötzlich anfängt. Es kann einige Zeit dauern, bis man versteht, was passiert.

Deswegen verharren Menschen auch in einer gewaltsamen Beziehung. Erst später sagen sie: Uff, das hätte ich nie zulassen dürfen. Als Flo Marie fotografiert, sagt sie, Marie könne ein bisschen abnehmen. Sie habe schöne Knochen, fügt Flo hinzu, und kneift Marie in die Wangen. Diese Berührung habe ich beim Schreiben als sehr gewaltsam empfunden. Marie kann nirgendwo hin, eigentlich sollte sie froh sein, dass ihr ein Kompliment gemacht wird. All diese Scheiße, die uns immer erzählt wurde, dass Künstler nur zu großen Leistungen kämen, indem sie über Grenzen gehen – das alles ist nicht wahr. Das Zusammenleben auf der Akademie beschreibe ich vielleicht nur grob, aber viele Leute erkennen sich wieder. Wobei ich mich frage, wie diese Darstellung des Kunstunterrichts in Deutschland verstanden wird.

WELT: Wie meinen Sie das?

Bronwasser: Akademien, in denen Studenten in kleinen Gruppen intensiv mit ihren Dozenten zusammenarbeiten, sind in Deutschland meines Wissens untypisch. Ich glaube, der Kunstunterricht läuft hier anders. Kunst wird an Universitäten gelehrt und scheint mir stark durch Theorie geprägt – die in den Niederlanden nur eine winzige Bedeutung hat. Also denken die deutschen Leser vielleicht: So funktioniert das doch gar nicht.

WELT: In den Niederlanden ist Ihr Roman vor zwei Jahren erschienen. Haben Sie inzwischen verstanden, was seinen Bestsellererfolg ausmacht?

Bronwasser: Leider nicht. Vor kurzem war ich zu Gast bei einer Veranstaltung, bei der die Moderatorin fragte, warum die Anwesenden meinen Roman läsen. Die meisten haben geantwortet: Weil ich mitreden will. So weit ist es also schon. Doch im Grunde liest jeder Leser sein eigenes Buch. Es gibt diejenigen, denen der historische Aspekt wichtig ist – von den Bombenanschlägen, die Paris in den 1980ern erschüttert haben, weiß kein Mensch mehr. Andere interessieren sich für die Bataclan-Attentate von 2015 und die Verbindung zu unserer heutigen politischen Lage. Die Coming-of-Age-Geschichte von Marie kommt beim ganzen Publikum an, darüber spreche ich zum Beispiel mit Schülern. Kunst und Fotografie sind ebenfalls Elemente, die anziehen. Kurzum, es gibt keine eindeutige Antwort.

WELT: Bei einer Veranstaltung in der niederländischen Stadt Venlo haben Sie gesagt, es gebe Leser, die Ihren Roman für einen Thriller halten.

Bronwasser: Genau. Obwohl ich bei Thriller an einen Mord denke, und darum geht es in meinem Buch nicht. Es gibt auch kein Mysterium, das entwirrt werden soll. Beim Schreiben habe ich allerdings schon gespürt, dass es mir gefiel, die Geschichte spannend zu erzählen. Von Philippe zum Beispiel, dem Vater von Maries Gastfamilie in Paris. Viele Romanfiguren streben etwas an, er nicht. Er scheint getrieben von seinen Ängsten. Es hat richtig Spaß gemacht, mit ihm mitzulaufen, während er die Au-pair-Mädchen verfolgt, die vor Marie in seiner Familie gearbeitet hat. Warum macht er das? Natürlich kannte ich selbst die Antwort.

WELT: Die Erzählung beginnt mit Philippe, obwohl man erwarten würde, sie fange an mit Marie, der Erzählerin. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Bronwasser: Die Geschichte von Marie, die sich in Paris von null an neu erfindet, hatte ich zuerst geschrieben. Sie kommt da an, hat einen Grund dafür, und ich wusste auch schon, welchen. Es war mir ebenfalls klar, dass der Vater ihrer Gastfamilie eine Rolle zu spielen hatte. Als ich herausgefunden hatte, welche, gefiel mir dieser Part der Geschichte so gut, dass ich ihn in einem Rutsch geschrieben habe. Mir wurde aber klar, dass einen dieser Strang nur ablenken würde, wenn ich ihn irgendwo in die Geschichte über Marie eingefügt hätte. Deswegen steht Philippe ganz vorn. Jetzt hat man Vorwissen, wenn man bei Marie landet. Wenn sie zum ersten Mal in die Wohnung der Familie tritt, und der Vater liegt da auf dem Bett und hebt seine Hand, dann wissen wir, was mit ihm geschehen ist – sie aber nicht. Es war ein Risiko, es so zu machen, aber ich darf als Schriftstellerin tun, was ich will, nicht wahr?

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