Wirklich viel Geld bringen nur die großen Skulpturen, sagt Thomas Schütte mit leiser Stimme und zündet sich eine Zigarette an. Kaum merklich huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Zum grauen Sieben-Tage-Bart trägt er eine dunkelblaue Kaschmirmütze, die er nicht absetzen wird. Den Kamm, der neben drei verschiedenen Stiften in der Revers-Tasche seines kragenlosen Leinenjacketts steckt, braucht er nicht.

Bei einem Empfang aus Anlass einer Retrospektive seines Werks in Venedig steht der Düsseldorfer Künstler in einem verwunschenen Garten auf der Giudecca-Insel und kehrt dem Sonnenuntergang den Rücken. Ein stiller, stattlicher Mann von 70 Jahren, dem man aber auch ansieht, dass er nicht nur die lichten Seiten des Lebens kennt.

Schütte stand lange nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit des Kunstbetriebs. Als zu eigenwillig galt er, der unbeirrbare Verfechter einer figurativen Bildhauerei, die sich geradezu bockig gegen den konzeptuellen Installations-Mainstream und das abstrakte Einerlei wendete. Zu eigensinnig schien er auch als Persönlichkeit, die kein großes Aufheben darum machte, gegen den Strom zu schwimmen.

Im Jahr 2005 änderte sich das, als er auf der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen als bester Künstler ausgezeichnet wurde: für eine Gruppe von „Stahlfrauen“, großen liegenden, seltsam deformierten und wie aus der Zeit gefallenen Aktskulpturen.

Thomas Schütte wurde in Paris und New York gefeiert

Mittlerweile steht Schütte auf dem Höhepunkt seines Ruhms, auch dank des Kunstmarkts. Auf Auktionen erzielen seine Skulpturen siebenstellige Preise. So versteigerte Christie’s schon vor elf Jahren den „Großen Geist Nr. 6“, ein schlaff anmutendes Wabbelwesen aus blaugrün patinierter Bronze für 5,3 Millionen Dollar, eine rostbraune Stahlversion brachte sechs Monate später immerhin 3,3 Millionen Dollar. Vor acht Jahren kam auch die „Bronzefrau Nr. 1“ auf über fünf Millionen Dollar.

Thomas Schütte reüssierte aber auch beim Publikum mit musealen Ausstellungen. Im Jahr 2019 hatte er eine international wahrgenommene Schau in der Monnaie de Paris. 2024 begeisterte er die Besucher im Museum of Modern Art in New York. Seit gut zehn Jahren nutzt er seine am Rande von Neuss gebaute Skulpturenhalle der eigenen Stiftung als Schaulager für seine großen Skulpturen und macht dort Ausstellungen mit befreundeten Künstlern. Jetzt ist Schütte nach Venedig zurückgekehrt und stellt in der historischen Zollstation Punta della Dogana aus, dort wo der Canal Grande ins Becken von San Marco mündet.

Vor der Backsteinmauer am Kai steht weithin sichtbar die monumentale „Mutter Erde“, im alten Leuchtturm ihr Konterpart „Vater Staat“. Es sind zwei Statuen im Wortsinne: knapp vier Meter hohe, tonnenschwere Bronzefiguren. Statisch und stabil stehen sie da, kegelförmig eingeschnürt in ihre Kleidung – ein Stilmittel, dass Schütte an kleinen Figurinen aus Fimo-Knete und Stoffresten entwickelt. Keine Gliedmaßen ragen da heraus, zum Kopf der beiden Statuen muss man aufschauen, sich selbst angesichts ihrer grandiosen Steifheit verbiegen. Ihre Titel unterstützen die skulpturale Gravitas.

Etwas beweglicher und noch größer sind „Drei ganz große Geister“: Sie schrauben sich mit verdrehten Gliedern in die Höhe, ihre Füße können nur von rustikalen Metallträgern gehalten werden. Sie gestikulieren und grimassieren, jeder für sich, der Balkendecke entgegen. Über die Wände sind bronzene „Wichte“ verteilt. Bodenhaftung bewahren die „Männer im Wind“, sie leiten sich aus der frühen Serie „Männer im Matsch“ ab, was erklärt, warum ihre unteren Extremitäten im Skulpturensockel stecken bleiben.

Alle diese Großskulpturen sind Eigentum von François Pinault, dem auch das Zollhaus gehört und mit dem Palazzo Grassi noch ein zweites Privatmuseum in Venedig. Dem französischen Modeunternehmer (Gucci, Saint Laurent, Balenciaga etc.), Milliardär und Mäzen gehört eine riesige Kunstsammlung, die in der umgebauten Bourse de Commerce in Paris ausgestellt wird. Kunstwerke von Thomas Schütte sammelt Pinault seit mehr als 20 Jahren. Er ist zweifellos einer seiner wichtigsten Gönner – das will er auch zeigen.

Als Leihgeber besitzt Pinault längst eine kritische Masse. Er ist also mitverantwortlich für die museale Präsenz, die Schütte heute erreicht hat. Im eigenen Haus erinnert es an das Menschenbild des Künstlers, „von seiner Ironie“ sei er schon beim ersten Besuch im Atelier Schüttes in Düsseldorf beeindruckt gewesen: „Ich war gerührt von seiner besonderen Beziehung zum Tod“, schreibt der 88-jährige Pinault im Vorwort des Katalogs zur Ausstellung „Genealogies“ und „ergriffen von seiner Sensibilität für alle Schwächen der menschlichen Seele“.

Dämonen und Daumier

Die Schwäche der eigenen Seele hat Schütte mehrmals in psychiatrische Kliniken gebracht. Die „Geister“, die „Zombies“, die sich feindselig anstierenden Bronzeköpfe der „Fratelli“ oder der grünspanige „Mann ohne Gesicht“, der sein Antlitz wie einen abgeschnittenen Kanten vom Brotlaib in der Hand hält, können leicht auf die falsche Spur führen.

Alle diese komischen, irritierenden bis schockierenden Statuen und Büsten sollte man nicht als Verkörperungen der Dämonen verstehen, die den Künstler immer mal heimsuchen. Jedenfalls nicht nur. Thomas Schütte ergründet mit ihnen die menschliche Physiognomie und Haltung wie ein Honoré Daumier.

Der französische Zeichner des 19. Jahrhunderts wird oft als Karikaturist belächelt (tatsächlich hat er auch satirische Lithografien für Zeitungen gemacht), aber sein überzeichneter Realismus ist der Wirklichkeit abgeschaut. So auch bei Schütte. Man schaut bei dessen Skulpturen zwar in drollige bis bitterböse Visagen, aber gleichsam in den Spiegel. Immer erkennt man zutiefst menschliche, ja, in aller Verzerrung humane Gesichter.

Selbst wenn sie so abstrahiert sind wie die „Eierköpfe“. Auch in ihnen zeigt sich die Meisterschaft des Bildhauers Schütte: Es sind minimalistische, bunt glasierte Tonskulpturen, in die nur Augenhöhlen und Mundöffnungen eingedrückt sind. Aber die dreidimensionalen Emojis strotzen nur so vor Ausdruckskraft.

Sie verdeutlichen auch das (im Kunsthandel wie im Ausstellungswesen) erfolgreiche Prinzip von Thomas Schütte, das er womöglich bei seinem Lehrer Gerhard Richter gelernt hat, bei dem er an der Kunstakademie Düsseldorf in den 1970er-Jahren studierte: Schütte arbeitet seriell, aber schafft Unikate. Die „Eierköpfe“ (2014) etwa werden von der Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf und Berlin für 150.000 Euro angeboten.

Er variiert die Skulpturen etwa in Bronzeguss, Cortenstahl und hochglanzpoliertem Aluminium. Köpfe und Büsten findet man reihenweise aus Metall wie aus Keramik (aus der Reihe „Old Friends Revisited“ von 2021 bei Konrad Fischer ab 250.000 Euro) oder Muranoglas.

Die Materialbeherrschung treibt Thomas Schütte mit versierten Handwerkern auf die Spitze. So arbeitet er mit dem Kölner Keramiker Niels Dietrich zusammen, um mehrschichtige, aufreizend kolorierte Glasuren zu entwickeln. In der Düsseldorfer Kunstgießerei von Rolf Kayser experimentiert Schütte mit Gusstechniken und Patinierungen.

Seine Glasskulpturen entstehen auf der venezianischen Insel Murano, wo seit Jahrhunderten die Geheimnisse der Glaskunst von hoch spezialisierten Meistern bewahrt und weitergegeben werden. Und wo immer die Bereitschaft herrschte, sich von zeitgenössischen Künstlern inspirieren und herausfordern zu lassen. In der Manufaktur von Adriano Berengo sind so kristalline Gesichter entstanden, die wirken, als sei die Glasmasse noch zähflüssig und würde vor unseren Augen die Mimik verändern.

Seelische Schieflagen

Mit seinem Vertrauen darauf, dass die Darstellung der menschlichen Figur kein Auslaufmodell ist – schon gar nicht in der Bildhauerei –, hat sich Thomas Schütte, seinen Platz in der Kunstgeschichte gesichert. Gefährden kann er ihn nur selbst mit der eigenen Virtuosität. Er wagt sich immer wieder hart an die Kitschgrenze, überschreitet sie auch. Das merkt man weniger am einzelnen Kunstwerk, aber in der dichten Abfolge von Skulpturen und Zeichnungen in dieser Schau drängt sich das Gefühl der ästhetischen Übersättigung auf.

Jedes Objekt scheint das nächste zu übertrumpfen: Glasur und Patina werden immer schöner und delikater. Noch skurrilere Gesichtsausdrücke folgen auf noch stärker verrenkte Körper. Und von Zeichnung zu Aquarell – die jüngste Reihe ist bei Schüttes letztem Aufenthalt in der Psychiatrie entstanden – wird ein Kalauer mehr draufgesetzt. Immerhin: Schütte kann man nicht den Vorwurf machen, er sei mitschuldig daran, dass der Gegenwartskunst der Witz abhandengekommen ist.

Er wandelt auf scharfem Grat, das ist ihm als Mensch, der seelische Schieflagen kennt, eigen. Als Künstler muss Thomas Schütte dieses Risiko der Unsicherheit aber unbedingt eingehen: Das Schwerste, weiß er, sei, das Werk im richtigen Moment zu beenden.

„Thomas Schütte. Genealogies“, bis zum 23. November 2025, Punta della Dogana, Venedig

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