Heute sprechen die Erzieher von „herausforderndem Verhalten“, wenn ein Kind wüst um sich schlägt oder sich total verweigert. In der Literaturgeschichte spricht man von Enfant terrible, was ähnlich euphemistisch ist, vor allem wenn man nicht mehr davon selbst betroffen ist. Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, der 1975 in Alter von 35 Jahren in London bei einem Unfall starb, war zu Lebzeiten regelrecht gefürchtet, nicht nur von seinen Feinden, sondern auch seinen Freunden.

Jörg Schröder, der MÄRZ-Verleger, der mit Brinkmann die epochale „ACID“-Anthologie amerikanischer Undergroundliteratur machte, nannte ihn rückblickend einen „Kotzbrocken“; Nicolas Born sprach nach Brinkmanns frühem Unfalltod von dessen „Unversöhnlichkeit gegenüber fast allen Tatsachen und Bedingungen des Lebens“, die so entschieden gewesen sei, „dass sie Freundschaft beinahe ausschloss“.

Es ist Teil des Mythos Brinkmann, seine Beleidigungen und Unverschämtheiten gegenüber selbst engsten Weggefährten für eine unvermeidliche Begleiterscheinung seines Schreibens, als Ausfluss seines radikalen Gegensatzes zu den unerträglichen Verhältnissen zu halten, letztlich als eine besondere Sensibilität einer kompromisslosen Künstlernatur. Peter Handke sprach in seinem bewegenden Nachruf von einem „Ich, das querliegt zu Welt“; Heiner Müller nannte ihn das vielleicht „einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“.

Skandal mit „Maschinengewehr“

In die Annalen einer an Eklats nicht gerade armen Zeit ist die Diskussion im Literarischen Colloquium Berlin im November 1968 eingegangen, als Brinkmann – im Verbund mit Thomas Bernhard, einem anderen notorischen Menschenfeind – über die Kritiker Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki herfiel: Man habe ihn und Bernhard „mit dem ganz gemeinen Lockmittel Geld“ nach Berlin geholt, so Brinkmann; die arrivierten Kritiker würden ihre Machtpositionen ausspielen und damit junge Autoren in ihrer Entfaltung behindern (dabei hatte Reich-Ranicki kurz zuvor durch die euphorische Besprechung von Brinkmanns Debütroman „Keiner weiß mehr“ im selben Jahr maßgeblich zu seinem Durchbruch beigetragen; „Außerordentlich (und) obszön“ war die Besprechung überschrieben).

Als sich Hartung gegen den „pauschalen Unsinn“ verwahrte, wütete Brinkmann: „Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.“ Welche Ungeheuerlichkeit in diesen Sätzen gegenüber dem Holocaust-Überlebenden Reich-Ranicki lag, schien Brinkmann gar nicht wahrzunehmen. Der in Berlin aufgewachsene jüdische Kritiker erwiderte darauf „erschüttert“, das habe er „in dieser Stadt schon einmal gehört“.

In jenen provokations- und revolutionsseligen Jahren trugen solche Auftritte zu Brinkmanns Ruhm bei – jedoch richtete sich sein Furor ebenso gegen die linke Studentenbewegung, die „Frustrierten“ mit ihrem „humanistischen Geschwafel“, sowie – früher oder später – auf seine Autorenkollegen. 1969 folgte der Bruch mit seinem Verlag Kiepenheuer & Witsch und seinem unermüdlichen Fürsprecher Dieter Wellershoff, dem er vorwarf, ihn für seine Kölner Autorengruppe des „Neuen Realismus“ zu instrumentalisieren und „dienstbereit und eilfertig überall rumzufummeln“. Beim Verlagssommerfest beschimpfte Brinkmann die anderen Gäste, warf stapelweise Bücher aus dem Handlager des Verlags in den Vorgarten.

In der neuen, zum 50. Todestag erschienenen Biografie von Michael Töteberg und Alexandra Vasa „Ich gehe in ein anderes Blau“ (Rowohlt, 398 Seiten, 35 Euro) kann man diese Brinkmannsche Skandalchronik en détail nachlesen, was auch heute noch Fremdschamgefühle auslösen kann: Loyalität oder Dankbarkeit schien Brinkmann nicht zu kennen. Seine Trennung von MÄRZ, wo nach dem „ACID“-Triumph weitere Buchprojekte in Planung waren, inszenierte er als „Jüngstes Gericht“ (Jörg Schröder) über die Mitarbeiter in der Wohnung des Verlegers.

Das war auch der Bruch der Freundschaft mit Ralf-Rainer Rygulla, den der 19-jährige Buchhandelslehrling Brinkmann 1960 im Wohnheim in Essen kennengelernt hatte – ein Geistesverwandter der ersten Stunde. Nun musste sogar Rygulla „ein scharfrichterliches Urteil“ über sich ergehen lassen, „verbissen vorgeführt, mit einem ganz starren Gesicht“. Schröder erinnert sich so: „Er veranstaltete einen Rundumschlag, bei dem jeder unter Anklage stand, ein überlebtes Bewusstsein zu haben, in einer verkommenen Sprache zu leben.“

Genau diese geniale Dreckschleuderei, die rhetorisch brillante Kanonade von Hass und Ekel aber ist zum Markenzeichen Brinkmanns geworden, nicht zuletzt posthum mit seinem Italien-Buch „Rom, Blicke“, das aus seinem Aufenthalt in der Villa Massimo 1972/73 hervorging. Die vier Jahre nach seinem Tod erschienene Collage aus Notizen, Skizzen, Schnappschüssen, Postkarten, langen Briefauszügen (viele davon an seine mit Kind daheim in Köln sitzende Frau Maleen) überschrieb mit destruktiver Sprachgewalt das Narrativ einer italienischen Reise goethescher Tradition. In dichter Beschreibung wird der von der Konsumgesellschaft entstellte urbane Raum zur Hölle der Gegenwart. Auf einer Postkarte hat er es so zusammengefasst: „Italien kann mir gestohlen bleiben! Umbrien! Tumbrien! Kackien! Alles Ruinen! (Auch im Kopf!)“ Gerade dieser „scharfrichterliche“ Urteilston ist dann ein Merkmal späterer Popliteratur in Brinkmanns Fußstapfen geworden: Dichtung als herausforderndes Verhalten.

In „Westwärts 1&2“, dem praktisch zeitgleich mit seinem Tod 1975 erschienenen lyrischen Hauptwerk, hat diese blendend übergrelle Wahrnehmung ihren literarisch bedeutsamsten Niederschlag gefunden. Wie seit dem Expressionismus nicht mehr wird darin die moderne Conditio humana beschrieben, das deformierte Menschsein, die Perversion von geistiger Freiheit, Gefühl und Glück in den sozialen Zwangssystemen und verödeten Stadtwüsten – und zugleich im Gedicht in prekäre Schönheit verwandelt. Doch gibt es bei Brinkmann eine riskante Dauerspannung zwischen der Ablehnung von Klischees und Gedankenlosigkeit und der programmatischen Lust am undifferenzierten In-den-Boden-Stampfen. Stumpf und unsensibel, das sind immer die anderen.

In der gerade erschienenen, erweiterten Neuausgabe des Bandes (Rowohlt, 438 Seiten, 52 Euro) ist Brinkmanns „unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten 1974/75“ abgedruckt, eine 80-seitige, absatzlose Tirade gegen die „Ziviehlisation“ in all ihren Gestalten, im Ton eine Art Schlusswort zu Kultur und Gesellschaft an und für sich. Wie Brinkmann von diesem absoluten Nullpunkt aus hätte weiterschreiben (und -leben) sollen, ist ein Rätsel.

Die Frage drängt sich auf, wie aus dem radikalen Willen zur Erneuerung der Literatur (nach amerikanischen Vorbildern) eine ans Wahnhafte grenzende Wahrnehmung auch im Privaten und Alltäglichen wurde, von der diese späten Texte zeugen. Die in jener Zeit üblichen Drogen spielten wohl eher eine geringe Rolle. Einen entscheidenden Anteil wird die familiäre Situation gehabt haben, die sich dramatisch zuspitzte. Der 1964 geborene Sohn Robert war geistig und körperlich schwer behindert, was die Eltern schon früh an den Rand des Zusammenbruchs führte. Brinkmann war offenbar auch davor in die wilden Räusche und Aktionen um 1970 geflohen.

In „Rom, Blicke“ findet sich ein vom 24. Dezember 1972 datierter langer Brief an Maleen, in dem „der erschreckende und bestürzende, nicht wegzudenkende und wegzuredende Stoß durch Roberts Gehirnschädigung“ eine zentrale Rolle spielt, auch unüberhörbare Gefühle der Schuld und des Versagens: „und ich muss Dir auch sagen, dass ich langsam begreife, welche ungeheure Arbeit Du verrichtet hast … permanent rumlaufen wegen Medizin und Behandlung, hindurchstolpern durch bruckstückhafte Informationen“. Man kann in diesem Brief aber auch beispielhaft nachvollziehen, wie Einsicht und Selbstkritik in den üblichen Rundumschlag kippen.

Die glücklichen, produktiven Phasen, denen Brinkmann sein Comeback als Lyriker abrang, das er selbst nicht mehr erlebte, sind fern von seinem belastenden Kölner Alltag: die Natur im abgelegenen Gästehaus der Villa Massimo in Olevano; der Gastaufenthalt und die Arbeit mit Studenten an der Universität Austin, Texas 1974. Nach seiner Rückkehr waren die Lebensumstände der Brinkmanns tatsächlich deprimierend. Während Maleen, dauerbeansprucht von der Betreuung des inzwischen zehnjährigen Robert, endlich ihren Studienabschluss zu machen versuchte, stapelten sich die Zahlungsbefehle, beim Einkaufen ließ man anschreiben, das Telefon war schon lange abgestellt. „Zu Hause in der Wohnung komme ich fast nicht mehr klar, keine Ruhe, dauernd Störungen“, schrieb er. Die Ehe stand vor dem Aus.

Das Comeback als Schriftsteller sollte der ersehnte Befreiungsschlag werden. Mit einem der ersten Vorabexemplare von „Westwärts 1&2“, das im Mai erscheinen sollte, fuhr Brinkmann Mitte April 1975 nach England zum Literaturfestival Cambridge. Es hatte wieder etwas von Flucht. Seine Lesung dort war ein Erfolg, „großartig … wie’n Rock-’n’-Roll-Konzert“, schrieb er auf einer Postkarte. Anschließend reiste er mit dem Dichterkollegen Jürgen Theobaldy nach London, wo er am 23. April gegen 22 Uhr, beim Überqueren einer Straße von einem Auto überfahren wurde. Er war sofort tot.

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