William Shakespeare muss man sich als eine Art Sam Goldwyn des elisabethanischen Showgeschäfts vorstellen. Der in Warschau als Sohn chassidischer Eltern geborene Szmul Gelbfisz wanderte mittellos in die USA ein, arbeitete sich als Handschuhmacher nach oben, stieg ins Filmgeschäft ein und produzierte einen Filmklassiker nach dem anderen. Shakespeare wurde als Sohn eines Handschuhmachers und heimlichen Katholiken in Stratford geboren, ging mittellos nach London, wo er sich vom Schauspieler zum Theaterbesitzer hocharbeitete und einen Klassiker – und Kassenschlager – nach dem anderen inszenierte.
Über diese Eckdaten dürften sich die meisten Shakespeare-Biografen – und es gibt davon Tausende, darunter der Autor dieser Zeilen – einig sein. Alles andere liegt im Dunkeln, und das ist für die Biografen auch gut so, denn wo man nichts weiß, kann man umso besser seinen eigenen Shakespeare zurechtspekulieren.
Schrieb der Emporkömmling aus der Provinz all die Stücke, die ihm zugeschrieben wurden, oder lieh er seinen Namen nur begabteren und romantischeren Gestalten, etwa aus dem Umkreis des Hofes? Kommt ein bisschen darauf an, ob man glaubt, ein geschäftstüchtiger Bürger ohne Universitätsbildung könne nicht nur eine Seele haben, sondern derart einfühlend Seelenzustände beschreiben, dass wir heute noch von seinen Stücken zu Tränen gerührt werden.
Und: Warum verließ Shakespeare Stratford? Floh er vor der unglücklichen Ehe mit der acht Jahre älteren Anne Hathaway? Die hatte der Achtzehnjährige heiraten müssen, weil sie mit der Tochter Susanne schwanger war. Die meisten Biografen gingen bisher davon aus, dass Anne in Stratford zurückblieb. Es gab nur ein weiteres Kind: Judith, deren Zwillingsbruder Hamnet früh starb. In seinem Testament vermachte Shakespeare, der als gemachter Mann nach Stratford zurückgekehrt und das vornehmste Haus der Stadt gekauft hatte, seiner Witwe nur sein „zweitbestes Bett“.
Die Stücke und Gedichte hingegen sind voller lebenslustiger und erotischer Frauen, allen voran die „dunkle Dame“ der Sonette, deren Autor sich am Ende des Gedichtzyklus durch Heilbäder von einer Geschlechtskrankheit erholen will; ich ist zwar ein anderer, wie wir wissen, und doch haben sich Generationen von Shakespeare-Forschern auf die Suche nach der dunklen Dame gemacht, in der Anthony Burgess eine arabische Prostituierte namens Fatimah, Lorna Hutson die dichtende Tochter eines jüdischen Hofmusikanten sehen wollte.
Nun hat ein Matthew Steggle, Professor für frühe englische Literatur an der Universität Bristol, einen Fund gemacht, der die Legende von der in Stratford zurückgelassenen Ehefrau infrage stellt. Steggle machte sich die Mühe, einen 1978 entdeckten Brief etwas genauer zu lesen. Der Brief war 1608 zum Binden eines Buchs verwendet worden, und zwar von Richard Field, der auch aus Stratford stammte und als erster Stücke von Shakespeare drucken ließ.
Starke Indizien, dass der Brief echt ist
Der Brief ist an eine „Mrs Shakspaire“ gerichtet, die mit ihrem Mann in der Londoner Trinity Lane – der heutigen Little Trinity Lane – wohnt. Der Schreiber erinnert sie daran, dass ihr Mann von einer gewissen Witwe Butts Geld erhalten habe, das er für den Sohn der Witwe, John Butts, bis zu dessen Volljährigkeit verwalten sollte. Anscheinend aber hat sich Herr Shakspaire gegen die Rückzahlung gesträubt, sodass der Briefschreiber mit der Bitte an „gute Frau Shakspaire“ endet, sie möge „die Schuld ihres Mannes begleichen“; was unterstellt, die Ehefrau habe ein eigenes Vermögen oder selbstständigen Zugriff aufs gemeinsame Geld.
Um es vorwegzunehmen: Die abweichende Schreibweise „Shakspaire“ hat nichts zu bedeuten. Andere Zeitgenossen schrieben den Namen „Shake-Spear“ oder „Shaksper“. Überdies hat Professor Steggle einen John Butts aufgetan, der als Lehrling wegen Ungehorsams gegenüber der Mutter bestraft wurde und später in einer Gegend außerhalb der Londoner Stadtmauern wohnte, wo sich zwei Theater befanden, an denen Shakespeare beteiligt war, wo seine Geschäftspartner James, Richard und Cuthbert aus der Burbage-Schauspieler- und Theaterbesitzerdynastie eine Kneipe betrieben und wo viele weitere Schauspieler wohnten.
Ein privater Brief an eine Frau Shakespeare, verwendet von einem mit den Shakespeares befreundeten Drucker, der einen jungen Mann betrifft, den William Shakespeare gekannt haben könnte: Die Indizien sind schon stark, dass es sich um Anne handeln könnte. „Für Shakespeare-Biografen, die das Narrativ der ‚katastrophalen Ehe‘ befürworten – ja für alle Shakespeare-Biografen – ist das Dokument ein schreckliches, schwieriges Problem“, schreibt Steggle im angesehenen Journal der britischen Shakespeare-Gesellschaft.
Ähm, nein. Dass Anne gelegentlich nach London kam und vielleicht sogar bei den Geschäften des Vielbeschäftigten einiges mitzureden hatte, spricht für ihren starken Charakter, aber nicht unbedingt für eine glückliche Ehe. Ohnehin erwartete man im elisabethanischen England, in dem die Scheidung nach wie vor verboten war, dass Eheleute unabhängig von ihren Gefühlen für- oder gegeneinander die Ehe aufrechterhielten.
Was der Brief bestätigt, und für seine Echtheit spricht, ist Shakespeares Knauserigkeit und fast schon protestantische Arbeitsmoral. An einen anscheinend disziplinlosen Tunichtgut, der seine Mutter missachtete und sich in einer Gegend herumtrieb, wo sich Schauspieler, Huren und dergleichen herumtrieben, wollte der Aufsteiger aus der Provinz anscheinend kein Geld verschwenden, das er selbst besser anlegen konnte, etwa zum Landkauf in Stratford.
„Dieses Zurückzahlen mag ich nicht. Das ist doppelte Arbeit.“ Der Spruch hätte von Sam Goldwyn sein können. Ist aber von Shakespeare (Heinrich IV Teil 1, 3. Akt, 3. Szene).
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