Die Mitgliedschaft in der Academy of Motion Picture Arts and Sciences – kurz Oscar-Akademie genannt – ist eine Auszeichnung. Nur rund 10.000 Filmkünstlern, die in ihrer Sparte Außerordentliches geleistet haben, ist diese Ehre zuteilgeworden. Sie dürfen ihren Status auf die Visitenkarte drucken, werden zu Spezialvorführungen in Kinos in Los Angeles, New York oder London eingeladen – und dürfen bei den Oscars mitstimmen.

Die Academy Awards werden nämlich nicht, wie viele glauben, von einer Jury vergeben, sondern in einer Urabstimmung aller Mitglieder. Die dürfen aber – und diese neue Regel tritt sofort in Kraft – in einer Kategorie nur noch abstimmen, wenn sie alle nominierten Filme gesehen haben.

Klingt selbstverständlich. Aber eine Ehre kann auch eine Last sein. Kurze Kalkulation: Es gibt 23 Kategorien, in jeder sind fünf Filme nominiert (beim „Besten Film“ zehn), macht summa summarum maximal 120 Filme, die der gewissenhafte Wähler ansehen müsste, um sich einen Überblick zu verschaffen. Gut, in der Praxis sind es wohl eher 70 oder 80, da viele Filme in mehreren Kategorien nominiert sind.

Die Oscars sind in ihrem Kern ein Vergleichswettbewerb: Welcher von den fünf Nominierten hat die beste Kameraarbeit (oder die beste Musik, Kostüme et cetera)? Um abwägen zu können, sollte man das gesamte Angebot kennen. Was nicht so schwer ist, denn entweder hat man die Filme im Kino gesehen oder kann sie über eine Streaming-App nachholen, zu der nur Akademie-Mitglieder Zugang haben.

Auf jeden Fall: Die Ehre kann in Arbeit ausarten. Weshalb manche Akademiemitglieder im Schutz der Anonymität bereitwillig einräumen, gar nicht alles gesehen und trotzdem abgestimmt zu haben. Ein paar rätselhafte Oscar-Entscheidungen ließen sich so besser erklären.

Warum zum Beispiel wurde Ralph Fiennes für seine überragende Leistung in „Konklave“ nicht ausgezeichnet? Mögliche Antwort: Viele Wähler gingen davon aus, dass Fiennes für „Schindlers Liste“ schon einmal gewonnen habe (was nicht stimmt) und machten sich deshalb nicht die Mühe, „Konklave“ anzusehen. Oder, anderes herum: Warum geht auf gewisse Filme eine Preislawine herunter? Weil manche Wähler einen Favoriten haben und den in allen möglichen Kategorien ankreuzen – ohne die Alternativen gesehen zu haben.

Nun ist es hier wie bei allen Vorschriften: Viele halten sich nur daran, wenn die Einhaltung kontrolliert wird. Ja, die Academy kann überprüfen, welches Mitglied welchen Film über ihre App gestreamt hat. Aber bedeutet das auch, dass der Film angesehen worden ist? Der Wähler könnte während des Streams in die Garage gegangen sein und seine Limousine poliert oder die zweite Hälfte des Films im Schnelldurchlauf abgekürzt haben. Und was, wenn die Wählerin behauptet, für den Film ins Kino gegangen zu sein? Muss sie dann die Eintrittskarte an die Akademie schicken, auf der oft nicht einmal mehr der Titel des Films steht?

Natürlich gibt es jede Menge Wege, die neue Vorschrift zu umgehen. Es läuft auf – um einen Film zu zitieren, der auch keinen Oscar gewann – eine Frage der Ehre heraus. Eine Aufforderung, bei einer Kategorie, in der man nicht alles gesehen hat, einfach nicht abzustimmen. Lieber gar kein Kreuzchen setzen statt ein unehrliches.

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