Das Unbekannte bekannt machen, dem Ungenannten einen Namen geben: Was für ein Plan! Könnte auch Programm eines der Schöpfungstage sein. Seit Jahrzehnten sammelt Tavares Strachan, was vergessen, übergangen, unsichtbar geblieben ist, in keinem Lexikon der Alten Welt als kanonischer Menschheitsbesitz festgehalten wird. 17.000 Einträge soll die „Encyclopedia of Invisibility“ inzwischen enthalten.
Man kann es nicht nachprüfen, das Buch ist viel zu dick und zu schwer. Deswegen liegt es unaufklappbar in der Saalmitte, und ringsum sind die Wände mit kopierten und großräumig übermalten Seiten gefüllt.
Vielleicht steht man ja einfach falsch, aber dass man beim Studium der Unsichtbarkeitsbelege gleich einmal auf den Eintrag „Rimsky-Korsakow, Nikolai Andrejewitsch“ stößt, das überrascht dann schon. Bislang hatte man dem russischen Komponisten doch eine gut belegte Prominenz attestiert. Aber womöglich ist er ja auf den Bahamas, der Heimat des Künstlers, nicht gar so bekannt, und es wäre längst an der Zeit, dass ein Orchester in Nassau mal den „Hummelflug“ als Zugabe einstudieren würde.
Globaler Süden in der Kunsthalle Mannheim. Aber ganz ohne den präzeptoralen Sound, mit dem uns der postkoloniale Diskurs zur kulturgeschichtlichen Nachhilfe einzubestellen pflegt. Tavares Strachan ist eher geneigt, die Sichtbarmachung des Unsichtbaren an sich selber zu erproben. So ist er unbeirrbar von der bodenlosen Schicksalsungerechtigkeit überzeugt, die einem niemals in die Schlagzeilen geratenen Robert Henry Lawrence Jr. die verdiente Raketenreise ins All verwehrt hat.
Lawrence war offenkundig der erste Afroamerikaner, der ins US-Raumfahrt-Team aufgenommen wurde. Ein junger Mann mit Doktorhut und besten Referenzen, der leider bei einem Flugunfall ums Leben kam. Eine Geschichte, die Strachan so berührt hat, dass er sich selber einem Astronautentraining unterzog und auf seiner Karibikinsel eine eigene Raketenstation aufbauen ließ, wo er mit gläsernen und zuckerbetriebenen Modellen offensichtlich erfolgreich operiert, was wir mangels chemophysikalischer Kernkompetenz nicht kommentieren wollen. Gelungen war allerdings der Start eines Flugkörpers, der eine vergoldete Robert-Henry-Lawrence-Büste in eine Erdumlaufbahn brachte, wo sie noch immer kreisen soll.
Das sind eben die Anstrengungen, oder sagen wir getrost, die Überanstrengungen, die wir an der Kunst so bewundern. Diese Erzwingungsdemonstrationen und Selbsterkundungen, mit denen Joseph Beuys einst Tage und Nächte im Kojotenkäfig verbrachte oder Tavares Strachan sich übers arktische Eis fahren ließ, bis er am Nordpol eine Flagge zu Ehren des Matthew Henson hissen konnte, dem die dominante Entdeckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts schnöde den verdienten Heldenstatus aberkannt hat, wie es heißt. Auch ein Afroamerikaner, der das Ziel noch vor dem weißen Expeditionsleiter Robert Peary erreicht haben soll, der bis heute dafür gefeiert wird.
Nun sind das lauter Geschichten, die sich flüssig erzählen, aber nur mit erheblichen Abstraktionsverlusten vorführen lassen. So wenig wie man das Lexikon der Unsichtbarkeit als visuelles Ereignis beschreiben würde, so wenig findet auch die fatale Geschichte vom verhinderten Weltraumabenteuer ihre bezwingende Form. Leuchtschrift an der Wand, Fotos vom Raketenstart auf den Bahamas und als dramaturgischer Höhepunkt im Dunkelkabinett ein Robert-Henry-Lawrence-Skelett, dessen Nervensystem düster glimmt wie bei der Röntgenreihenuntersuchung. Dass man darüber in sophokleische Tragödienstimmung geraten würde, ließe sich schwerlich behauptet. Wie ja auch vom Selbstversuch am Nordpol nur ein schönes Panoramafoto und diverse Eisbärenfilme geblieben sind.
Ganz anders und ungleich eindrücklicher wird Tavares Strachan, wo er sich vom pädagogischen Zwang zur Nachbesserung geschichtlicher Überlieferung löst und der Westweltkunst seine eigenen Varianten entgegenhält. Im stärksten Raum der Ausstellung verteilt er eine Gruppe bronzener Black-People-Büsten, deren starre, archaisch strenge Gesichter allesamt von opulent fantasievollen Schwarzhaar-Frisuren gerahmt werden. Dass hinter jedem Figurensockel ein Bildquadrat an der Wand hängt, mit schwarzem Kraushaar monochrom bedeckt, ist eine feine ironische Anspielung auf den Absolutheitsanspruch der abstrakten Malerei. Den ausdrücklichen Hinweis auf die „kosmische Spiritualität“ der orgiastischen Frisuren darf man sich getrost ersparen. Wenn eines den Bauplan dieses Werks bestimmt, dann ist es das gänzlich unspirituelle Vertrauen in die Zeichenfähigkeit der Kunst.
Im Iglu kommt an sich uninformiert vor
Allein die Collage-Technik, die bei vielen Arbeiten auffällt, ist ein Ausweis der steuernden Bewusstseinsprozesse. So verbindet der Künstler Porträts der Jazzpianistin Nina Simone, des Bürgerrechtlers John Lewis oder des Lyrikers Derek Walcott mit afrikanischen Masken, wobei die Montagen offenlassen, ob sich die kulturellen Leistungsträger hinter den sie fast verhüllenden Traditionsmotiven verstecken oder mit ihrer vorgehaltenen „Verkleidung“ ihre Traditionsverbundenheit demonstrieren.
Schlichter hingegen die motivischen Kreuzungen und Zusammenstellungen, wenn Strachan den Abguss einer Porträtbüste des spätrömischen Kaisers Septimius Severus aufklappt und im Schädelinneren einen Kopf des südafrikanischen Aktivisten Steve Biko versteckt. Wobei die Pointe wohl ist, dass bereits der antike Bildhauer alles gegeben hat, um die Anmutung des gebürtigen Nordafrikaners zu romanisieren.
Ein bisschen albern dann der äthiopische Kaiser Haile Selassie, der sich ziemlich erfolgreich gegen die europäischen Kolonisatoren gewehrt hat und nun wie ein Totempfahl in einem vertrockneten Reisfeld steht, eine geschälte Ananas, einen Schutzschild und ein Football auf dem Kopf – eine Installation gewiss voller Anspielungen und mit beträchtlichem inszenatorischem Aufwand verbunden, aber doch etwas bescheiden, was den ästhetischen Ertrag anbelangt. Zumal hinten noch einmal Polabenteurer Matthew Henson thront und in seltsamem Priesterornat der Szene seinen Segen gibt.
Man muss viel wissen, viel erklärt bekommen, wenn man durch die Ausstellung streift. Wer ist wer und warum ist er da, wo er ist? Auch in dem gigantischen strohgedeckten Iglu („Intergalactic Palace“) kommt man sich doch etwas unterinformiert vor. Das vergoldete DJ-Pult in der Mitte und der Kranz afrikanischer Populärmusiker ringsum und die Notenblätter an den gewölbten Wänden, das alles deutet wie auch die eingespielten Klavierakkorde auf ein musikalisches Ereignis. Der lautstarke Raketenstart indes entzieht sich dann doch wieder dem kompositorischen Gefüge.
Ganz wird er sie eben nicht los, seine liebenswerte Obsession, mit der Tavares Strachan den Zukurzgekommenen und Unterlegenen im ewigen Kampf um die reservierten Plätze in der Geschichtserzählung späte Genugtuung verschaffen möchte. Dass er sich dabei just der Mittel bedient, die wir von einer Biennale- oder Documenta-kompatiblen Zeitkunst gewohnt sind, entwertet nicht den Anspruch des anderen Blicks, macht aber doch anschaulich, wie souverän sich auch der globale Süden längst den internationalen Standards angeglichen hat.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.