In ihrem Podcast „News Core: Politik bis Popkultur“ unterhalten sich Imke Rabiega und Julian Theilen über Trends und aktuelle Debatten. Das folgende Transkript ist eine gekürzte Essenz der Podcastfolge „Ostmullen und Chicken Jockey“.

Julian: Es geht heute um Ostmullen. Allein das auszusprechen, fühlt sich schon schräg an. Das Thema ist auf schreckliche Weise faszinierend.

Imke: Ich wusste erst gar nicht, was es heißt und habe dann mal recherchiert. Mullen ist ursprünglich eine abfällige Bezeichnung für eine Frau, ähnlich wie Weib, die ursprünglich aus dem Ruhrpott oder aus Berlin kommt. Ostmulle meint dann in dem Fall Frauen aus Ostdeutschland. Unter diesem Tag posten jetzt viele junge Frauen auf TikTok-Videos, in denen sie mit Beautyfilter, geschminkt und zurechtgemacht rechte Lieder lip-synch‘en. Klassischerweise ist das so etwas wie Böhse Onkelz, oder aber auch zu dieser Gigi D’Agostino-Melodie zu Ausländer raus – wir kennen sie alle noch von Sylt. Oft sind es aber auch noch derbere, rechtsradikalere Songs.

Julian: Wir sprechen ja schon seit Jahren über rechte junge Subkulturen auf TikTok und Co. Man hat sie ja oft als männlich verortet, aber es scheint eine weibliche Version davon zu geben. Es gibt mittlerweile sogar den Ostmullen-Dienstag, also einen ganzen Tag in der Woche, in dem dieser Trend zelebriert wird.

In einem dieser Videos sieht man etwa ein junges Mädchen mit ihrer, ich vermute jetzt mal Schwester und der Text auf dem Video lautet, man muss handeln bevor seine Geschwister links werden und dann singen sie zu Freiwild zusammen.

Imke: Das sind junge Mädchen, deren Videos sich genauso gut als Schminktutorial entpuppen könnten. Viele sind noch wirklich sehr jung, sehen maximal aus wie 15 oder 16. Wenn man die Videos dann anklickt, wird man ein bisschen überfallen von der provokanten und aggressiven Attitüde. Man erkennt dann auch beim näheren Hinschauen typisch rechte Codes. Sie tragen zum Beispiel Lonsdale, Helly Hansen, Alpha Industries, New Balance oder Fußball-Shirts mit einem Adler drauf und haben dann auch die typischen einschlägigen Emojis im Profil stehen, also das Adler-Emoji und die Deutschlandfahne zum Beispiel.

Julian: Die hängt häufig an der Wand in den Kinderzimmern.

Imke: Genau, auf Handyhüllen habe ich das auch schon viel gesehen.

Julian: Manche haben auch Tattoos im Gesicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob das echt ist oder ein Filter.

Imke: Ja, und diese klassischen Beautyfilter sind auch über die Gesichter gelegt.

Julian: Der Name Ostmulle ist dann eine ironische Selbstabwertung, so was wie Olle. Auf jeden Fall wirken diese Trends auch über das Internet hinaus. Viele sehr junge Frauen betonen auch ihr Fußball-Fan-Dasein, gehen häufig in die Fan-Kurven von Dynamo Dresden zum Beispiel. Das ist ja ein Verein, das ist gut belegt, der immer wieder Probleme mit rechtsextremen Fans hat. Ende Dezember 2020 letzten Jahres gab es beim Spiel Unterhaching gegen Dresden etwa eine Gedenkminute für die Opfer des Attentats in Magdeburg. Danach haben die Fans wieder „L'amour Toujours“ von Gigi D’Agostino angestimmt.

Imke: Das Spielen mit Musik ist ja generell ein wichtiger Treiber von popkulturellen Bewegungen. Bei den Ostmullen ist es auch so. Sie eignen sich Songs von Künstlern an, die eigentlich eine andere politische Gesinnung haben, zum Beispiel auch den Song „Dachlatte“ von dem Künstler Nand.

„Ich hab’ die Wut in meinem Kopf. Ja, du bist ein Egoist. Ich spucke auf deinen Kopf. Ja, du bist ein Egoist. Ich hasse deine Attitüde. Scheißegal, wer du so bist.“

Julian: Nand hat sich auch darüber aufgeregt, dass sich rechte Accounts den Song für ihre Videos geschnappt haben und versichert, dass er mit der AfD nichts zu tun haben möchte. Aber ganz ehrlich, als ich den Song von ihm gehört habe, habe ich irgendwie verstanden, warum er auch rechts funktioniert. Es hat irgendwas von Böhse Onkelz, da steckt ein ähnlicher Sadismus drin.

Imke: Allerdings wird dieses Düstere ja in ganz vielen anderen Musikrichtungen genauso benutzt. Wenn man sich etwa Lebanon Hanover oder Boy Harsher anhört, klingt das ähnlich. Das ist allerdings super progressiv und eher links gemeint und kommt aus der Elektrokultur mit Darkwave-Elementen. Aber was mich an den Ostmullen am meisten erschreckt, ist, dass sie auf TikTok für ihr Lipsynching super viel Zustimmung bekommen. Sie werden in den Kommentaren auch teilweise sehr stark sexualisiert oder es wird die gute deutsche Frau aus ihnen gemacht. Dafür bekommen sie dann viel Anerkennung und Lob und bekommen Candystürme aus blauen Herzen. Das ist ja das Zeichen für AfD.

Das sind ja alles sehr junge Menschen, die diesen Trend mitmachen, vor allem Frauen, die sich als Ostdeutsche identifizieren. Ich glaube, das ist so eine Lebensrealität, über die relativ wenig gesprochen wird, auch in den Medien. Ich habe mit einer Kollegin geredet, die aus Ostdeutschland kommt und die sagt, dass es ganz viele Vorurteile und diskriminierende Klischees gibt, die ihr auch im Privatleben immer wieder begegnen. Aber ich, aus meinem westdeutschen Aufwachsen heraus, habe das erste Mal verstanden, das es da eine ganz andere Lebensrealität gibt, als ich nach Berlin gezogen bin und hier auf Menschen getroffen bin, die aus dem Osten kommen.

Julian: Ich habe mal eine Erhebung gelesen, nach der Westdeutsche sich nicht als Westdeutsche sehen, sondern als Deutsche. Wohingegen Ostdeutsche sich als Ostdeutsche sehen und dazu gezwungen werden, dass sie sich ostdeutsch sehen.

Imke: Der Trend ist so neu, dass es kaum Quellen dazu gibt. Vielleicht sollte man erst differenzieren und schauen, woher kommt die Aggression und dieser plakative Stolz aufs Deutschsein? Wie viel davon ist am Ende wirklich rechte Ideologie und wie viel ist vielleicht eher der Wunsch nach Zugehörigkeit von jungen Menschen, die sich strukturell benachteiligt und vom Staat vergessen fühlen? Das ist hier schwierig zu beurteilen, weil dieser Trend nicht politisch organisiert ist, sondern hauptsächlich über ästhetische Codes funktioniert: Musik, Symbole, Kleidung kommuniziert. Es werden keine angreifbaren oder eindeutigen Statements gemacht, die man interpretieren könnte. Deswegen ist es superschwer zu fassen.

Julian: Es geht wohl auch darum, die Deutungshoheit über die eigene Erzählung zu bekommen. Nach dem Motto: Ey, ich bin für dich der dumme rechte Ossi, dann spiel’ ich dir eben den dummen rechten Ossie. Ich weiß nicht, ob das bei den Ostmullen so eine reflexive Komponente hat. Allerdings greift es wohl auch zu kurz zu sagen, ich bin rechts, weil du mich als rechts siehst. Es sind vielleicht so Mischformen aus Sozialisation, Weltbild und Rollenerwartung der anderen. Aber so abschreckend der Ostmullen-Dienstag auch auf uns wirken mag, finde ich es ganz hilfreich, dass man die Rechtsradikalen auch mal popkulturell sieht. Nur so kann man sie fassen, was ihre Codes sind. Wie sie sich ein Land vorstellen, wie sie sich Ästhetik vorstellen. Wenn sie in der Popkultur immer unter dem Radar fliegen, weiß man sonst gar nicht, mit wem man es zu tun hat. Man weiß immer nur von einer diffusen Masse, die rechtsradikal sind, aber wo sind sie?

Imke: Ja, da stimme ich dir total zu. Gerade wenn man verstehen will, wie die Kommunikation funktioniert, ist es super wichtig zu wissen, welche Codes gerade im Internet populär sind. Wie können Eltern verstehen, was ihre Kinder im Netz machen und was das eigentlich alles bedeutet?

Julian: Man muss den Feind kennen, um sich ihm zu stellen.

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