Menschen gehen, schieben sich aneinander vorbei, beobachten, taxieren sich, vergessen sich. Wer sich prinzipiell in größeren Massen eher unwohl fühlt, wen die Anschläge der vergangenen Jahre unsicher gemacht haben, der sollte vielleicht lieber die ersten gut fünf Minuten von „Im Wahn“ auslassen.

Da passiert nämlich etwas, das eine Urangst befördern, eine Psychose auslösen könnte. Ein Mann hat sich unter die unterirdisch durch die Gänge des unwirtlichen Hannoveraner Hauptbahnhofs hastenden Menschen gemischt. Einen Hoodie hat er an, die Kapuze über den Kopf gezogen. Und dann geht es blitzschnell und wahllos. Er sticht zu. Er wird verfolgt. Er wird gestellt. Er sticht wieder zu. Zwei Menschen sind tot.

Wer dieser der bemerkenswert dicht erzählten, ziemlich aufregend gefilmten Ouvertüre zu Kommissar Falkes 36. Fall ausgesetzt hat und einen dieser üblichen Problem-„Tatort“-Geschichten erwartet, sollte den Fernseher einfach trotzdem gleich ausschalten. Es geht – bis auf einen Plot-Schlenk nach gut einer Stunde – nämlich nicht um Islamismus. Es geht überhaupt nicht eigentlich um das Problem marodierender Messermänner – weder der migrantischen noch der nicht nicht-migrantischen.

Es geht um Kroisus. Das ist ein KI-gesteuerte Überwachungstool, das in Windeseile aus einer Unmenge an Daten der rund um den Tatort in Funknetze eingeloggten Passanten die Wahrscheinlichkeit ausrechnet, dass einer der Vorbeieilenden der Täter sein könnte. Eine Art modernisierte Abart von Gotham, der inzwischen als verfassungswidrig eingestuften Palantir-Software, die in Frankfurt und Hamburg zur Fahndungsunterstützung eingesetzt wurde. Falkes Polizeidirektorin ist trotzdem ganz besoffen von den Möglichkeiten.

Kein fadenscheiniges Thesenwesen

Nun könnte einen langjährigen „Tatort“-User eine andere Urangst überkommen. Oder eigentlich gleich zwei.

Die nämlich, dass sich hinter „Im Wahn“ bloß wieder eines jener mehr oder weniger fadenscheinig von Erzähltüll umhüllten Thesenwesen verbirgt, in der eine wiederum mehr oder weniger aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in unendlichen Erklärbärdialogen durchdiskutiert wird.

Und die, dass – und Kommissar Falke wäre dazu geradezu prädestiniert – in dem von Georg Lippert geschriebenen und Viviane Andereggen inszenierten Fernsehspiel wieder bloß das blutige Menetekel vor dem großen Bruder und den Auswüchsen der fiesen Tech-Industrie an die Wände unser aller Wohnzimmer gemalt werden soll.

Zumindest diese Urängste werden diesmal nicht befördert. Es wird mehr gezeigt in einer ziemlich windungsreichen Geschichte mit ansehnlichen Spannungskurven als erklärt. Die Frage, ob man sich als Staat eigentlich freiwillig sein Gewaltmonopol von privaten Analysediensten aus der Hand nehmen darf, wird gestellt. Die danach, ob Ermittler mit ihrer Denkgeschwindigkeit, ihrer moralischen Vorprägung, ihrer ganzen sehr menschlichen Intelligenz nicht lächerlich sind gegenüber der vielfach überlegenen künstlichen auch.

Die Haltung von „In Wahn“ ist klar, aber sie nimmt nicht überhand. Gezeigefingert wird bemerkenswert wenig und wenn dann in eine überraschende Richtung.

Ein ewiger Zweifler

Der Fall ist eigentlich relativ schnell klar. Kroisus bestimmt in Windeseile den wahrscheinlichen Täter vom Hannoveraner Hauptbahnhof. Er heißt Zimmermann und haust unterm Dach. Er ist psychisch krank und leidet unter Verfolgungswahn.

Als Falke vor der Tür steht, flieht er aus dem Fenster und stürzt in die Tiefe. Die Polizeidirektorin ist glücklich, der Kroisus-Experte ist glücklich. Falke, der ewige Zweifler, ist es nicht.

Er sieht die Möglichkeiten, verniedlicht trotzdem nicht die Gefahren. Er ist wieder einmal die Sonde des gesunden Menschenverstands in den Untiefen eines sich ankündigenden Desasters.

Aber dann geht es weiter. Der Mörder, der eindeutig der Mörder war, ist tot. Dann wird aber noch einmal zugestochen. Mit der gleichen Waffe. In exakt der gleichen Art.

Ein Investigativjournalist, der sich auf die vielleicht finsteren Spuren von Kroisus begeben hat, wird von finsteren Kerlen in seiner Wohnung überfallen. Relativ schnell kommt jedes von mehreren Jahrgängen „Tatort“ gefütterte Gehirn auf den Trichter, dass da irgendwas anderes und ganz besonders sinistres im Gang ist.

Zwischendurch fallen wunderbare Zeilen. Ob das hier die Neuauflage von Kasparow gegen Deep Blue 30 Jahre später sei, fragt die technikbesoffene Polizeidirektorin ihren Lieblingskommissar. Am Ende wird die Maschine von ihr geradezu umarmt. Allerdings – „Im Wahn“ ist auch eine Art Entwicklungsroman – aus anderen Gründen. Nicht die Maschine habe Fehler gemacht, sondern die Menschen, die sie bedienten. „Die Blinden sind wir“, sagt sie.

Was geschieht mit Anais Schmitz?

Womit wir jetzt beim Ärgernis dieses eigentlich schicken Falls wären. Aus ziemlich unerfindlichen Gründen bekommt Falke, immer noch (wie wir alle) in Halbtrauer um seine dahingemordete Grosz, zur Unterstützung im Messerfall neben der in Hannover bisher nicht auffällig gewordenen Polizeidirektorin noch die Beihilfe von zwei Kolleginnen.

Die jüdische Lieder singende Kommissarin Yael Feldman (Peri Baumeister) ist auf einmal da. Anais Schmitz (Florence Kasumba), die sich selbst als Touristin einführt und sichtlich nicht so ganz weiß, weiß wie sie aus dem Göttinger „Tatort“-Büro nun ausgerechnet in diesem Drehbuch gelandet ist, das so gar nichts mit ihr anfangen kann.

Wer nun glaubt, das sei der Beginn von zumindest einer längeren und perspektivisch wunderbaren Zusammenarbeit, sitzt am Ende ziemlich verdutzt da, wenn eine Kollegin nach der anderen verabschiedet wird. Anais Schmitz ist sogar auf einmal ohne Angabe von Gründen einfach weg.

Und der arme Falke, der auch nicht weiß, wie ihm da geschieht, steht wieder ganz allein ist. Man möchte ihn anrufen. Und sei es nur, um ihn mit seinem Klingelton ein bisschen zu trösten –„Sympathy for the Devil“.

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