Wenn man bedenkt, dass es beim Discounter Warhol nur Dosensuppen gibt und beim Bistro-Service des Daniel Spoerri nur abgegessene Teller mit Essensresten, dann ist die „Doppelkäseplatte“ des Dieter Roth doch sehr zu loben. Zwar hat die verarbeitete Weichmasse seit den späten 1960er-Jahren beträchtlich an visueller Verelendung zugenommen, aber das gut verglaste Teil ist immer noch präsentabel und soll sich nach Auskunft des Kunstmuseums Stuttgart olfaktorisch risikolos in die Bestände fügen. Nun hängt es wieder mal an der Wand und führt namentlich eine ganze Ausstellung an, die in sämtlichen Räumen des Hauses die hundertjährige Sammlungsgeschichte Revue passieren lässt.

Sehr locker und ganz ohne System, ohne die Strenge der kunstgeschichtlichen Generationenfolge. In der Summe ein wunderbar buntes Durcheinander voll selten gezeigter Arbeiten und kaum gehörter Namen. Alle Kuratorinnen des Hauses sind im Einsatz, und jede hat ihr Spezialgebiet und darf ihre Vorlieben zeigen. Und niemand lässt sich von den bedenklichen Fermentierungsprozessen der Doppelkäseplatte aus dem eigenwilligen Konzept bringen.

Wobei man ja gerade vor ihr ins Grübeln kommt, ob heute im Abstand eines halben Jahrhunderts überhaupt noch eine Museumsdirektion Temperament genug hätte, eine Arbeit von Dieter Roth zu erwerben. Wie vergänglich Kunst ist, wie sehr ihr musealer Auftritt von der Blickrichtung der Verantwortlichen, von Zeitstimmungen, Epochengefühlen, saisonaler Propaganda, lokalen Schwerpunkten und wechselnden Sammler-Vorlieben abhängt, von Strategien also, die kaum über eine Generation hinausreichen, das wird beim Spaziergang durchs Haus vom Keller bis zum Dach überaus anschaulich.

Von wilder und konkreter Kunst

Man sagt ja nicht „nein danke“, wenn ein honoriger Sammler dem Hause ein ganzes Konvolut von – seinerzeit „wilden“ – 1980er- und 1990er-Jahre-Bildern des Markus Oehlen vermacht. Und so gibt man ihnen zwei gebührende Wände, mutet ihnen indes die dunkelglimmenden Farbformen der Ida Kerkovius zu, die sich hier sehr zu ihrem Gewinn von der Hölzel-Schule emanzipieren darf.

Oder Anton Stankowski. Einer der bekanntesten Grafikdesigner der Nachkriegsepoche. Anfang der 1950er-Jahre eröffnete er auf dem Stuttgarter Killesberg sein Studio, von dem aus er zahlreiche Großkunden bediente. Sein Logo für die Deutsche Bank hat bis heute Bestand. Entsprechend lag es nahe, dem berühmten Markenzeichner alsbald auch einen ehrenden Museumsplatz einzurichten. In der bilanzierenden Rückschau darf der Künstler nun fast im Alleingang den Part der konstruktiv konkreten Kunst spielen.

Ein anderer Kollege aus der Region, der Grafiker HAP Grieshaber, in den Nachkriegsjahrzehnten überaus populär, ist in der Sammlung freilich nur mit einem Farbholzschnitt vertreten. Was hat er falsch gemacht? Vermutlich nichts. Sein Pech nur, dass ihn die wechselnden Verantwortlichen nicht im Blick hatten.

Anders als Otto Dix, der mit seinen bizarren Porträts des 1920er-Jahre-Bürgertums zu den ganz Großen zählte. Von den Nazis kaltgestellt zog er sich nach Hemmenhofen an den Bodensee zurück – also in die Nähe von Stuttgart. Und so gehörte es zur Ehrenpflicht, dem Verbannten ein würdiges und bis heute überaus ansehnliches Schaufenster in der städtischen Sammlung einzurichten.

Ein paar Kabinette sind auch den vergessenen Namen reserviert, die in den 1930er-Jahren die verordnete Linientreue der städtischen Galerie garantiert haben. Tief hat man in den Archiven graben müssen, um noch valable Beispiele der Nazi-Kunst zu versammeln. Mit bestürzender Eindringlichkeit zeigen sie, wie erfolgreich der Faschismus das Selbstgefühl der entfesselten Moderne auf ledernes Kleine-Leute-Niveau reduzieren wollte.

Politisch wach ist das Stuttgarter Kunstmuseum seit seiner Gründung vor 20 Jahren und seit dem Aufbau der städtischen Sammlung vor hundert Jahren immer geblieben. Und wie überall hat auch hier so manche Erwerbung und manches mutige Ausstellung-Engagement den Publikumsgeschmack zielsicher verfehlt und die schwäbische Resilienz arg strapaziert.

Alles im Flux in Stuttgart

Gut möglich, dass schon der Gründungsakt der städtischen Galerie, die Schenkung des Grafen Silvio della Valle di Casanova damals nicht nur auf Zustimmung stieß. Seine „schwäbischen Impressionisten“ erfüllten die musealen Erwartungen doch etwas niederschwellig. Heute fremdeln sie offensichtlich inmitten der frohgemuten Gegenwartskunst und hängen ein bisschen da zum Erbarmen.

Wie auch so manchen explizit politischen Arbeiten das Feuer merklich erloschen ist. Sehr verdienstvoll hat das Museum unter der engagierten Leitung von Ulrike Gross immer wieder Künstlerinnen und Künstler in die Sammlung integriert, die den Aufmerksamkeits-Strategien des Kunstbetriebs trotzig Widerstand boten. Albrecht/d. etwa oder Dietrich Fricker aus der Fluxus-Bewegung der Stadt, Aktionisten einst an vorderster Front, heute eher Klienten der lokalen Legendenpflege. Mit den kruden Werkresten, die vom tapferen Kampfkunstleben geblieben sind, darf man doch etwas Mitleid haben.

Ganz im Gegensatz zum Nachlass der viel zu wenig bekannten Anne Marie Jehle, deren Werk bis zu ihrem Tod vor 25 Jahren ein Geheimtipp der Kennerinnen geblieben war und bis heute nicht wirklich gewürdigt ist. Ihre wunderbar ironischen Objekte zu weiblichen Rollenbildern zählen mit den Scherenschnitten der Kara Walker, die Ulrike Gross der Dixschen Kriegsmappe untergemischt hat, zu den Höhepunkten der Ausstellung.

So spiegeln die vielen Rauminszenierungen die Zeitstimmungen und Schlagzeilen einer Kunstsaison, lassen vergangene Hits aufleben und verraten die Vorlieben von Kuratoren und Sammlern und verheimlichen auch nicht, wie erfolgreich Zufälle und Gelegenheiten bei der Museumsregie mitspielen. Und wenn die ausgebreiteten Bestände auch einen ungemein lebendigen, wachen, nach vorn gerichteten Eindruck machen, dann begegnet man doch immer wieder fernen Publikumslieblingen, vor denen man heute nur noch ratlos steht. Und es wird einem in dieser munteren Präsentation einmal mehr bewusst, wie unwahr, wie gefährdet der Ruf der „ewigen“ Kunst ist.

Nichts ist ewig. Auch die Doppelkäseplatte wird das Schimmel-Schicksal nicht überleben. Wie die ungezählten Künstlerinnen und Künstler, die sich ein Leben lang wacker hielten, den Kanon aber dann doch nicht erreicht haben. Sie haben erst dann wieder eine Chance, wenn ein famoses Haus wie das Stuttgarter Kunstmuseum gegen alle Regeln in seinen Schätzen kramt, sich von seinen Entdeckungen überraschen lässt und die ein wenig langweilig gewordene Kunsterzählung ganz neu erzählt.

„Doppelkäseplatte. 100 Jahre Sammlung. 20 Jahre Kunstmuseum Stuttgart“, bis 12. Oktober 2025, Kunstmuseum Stuttgart

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