Als Brasiliens linkspopulistischer Präsident Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar 2023 die Rampe zum Präsidentenpalast in Brasilia hochschritt, ließ er demonstrativ Cacique Raoni die symbolischen Schritte mit hinaufgehen. Der 93-jährige Häuptling des Kayapo-Volkes aus Mato Grosso ist die bekannteste indigene Führungsfigur des Landes.
Brasiliens Ureinwohner, so lautete die visuelle Botschaft des Präsidenten nach vier Jahren unter dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro, würden nun wieder am Tisch der Mächtigen gehört werden. Über zwei Jahre später ist von dieser Willkommenskultur in der brasilianischen Hauptstadt nur noch wenig zu spüren. Gegen Ende des „Acampamento Terra Livre“, der traditionellen Protestwoche der Ureinwohner in Brasilia, die stets im April stattfindet, ging die Polizei mit Tränengas und Pfefferspray gegen indigene Demonstranten vor.
Die Darstellung der Vorfälle rund um den Kongress ist widersprüchlich. Von einer geplanten Erstürmung sprach die Polizei, vom jährlichen wiederkehrenden Protestmarsch die Organisatoren. Hieße der Präsident heute noch Bolsonaro, die Bilder wären wohl um die Welt gegangen.
Doch seit knapp zweieinhalb Jahren heißt der Präsident in Brasilia wieder Lula da Silva und das mediale Interesse an dessen fragwürdiger Umwelt- und Klimaschutzpolitik ist weitaus geringer als noch unter seinem umstrittenen Vorgänger. Dabei gibt es zahlreiche Entwicklungen, die bei Umwelt- und Klimaschützern die Alarmglocken klingeln lassen: Neuester Zankapfel ist das heftig kritisierte Projekt zur Ölförderung im Amazonasmündungsbecken des staatlichen Konzerns Petrobras.
Cacique Raoni ließ den brasilianischen Präsidenten bei einem Besuch in dessen Heimat vor wenigen Tagen wissen: „Ich weiß, dass Sie an der Mündung des Amazonas an das Öl denken, das sich unter dem Meer befindet.“ Für eine Umwelt und eine Erde mit weniger Verschmutzung und weniger Erwärmung wäre es aber besser, wenn das Öl dort auch liegen bleiben würden. Lula reagierte mit einem verlegenen Lächeln, er war wohl vor allem am gemeinsamen Foto mit Raoni interessiert.
Tatsächlich erlebt die Industrie des klimafeindlichen fossilen Brennstoffs Erdöl unter Lula eine ungeahnte Renaissance. So berichtet das kirchennahe Institut Humanitas Unisinos: „Unter Lula ist die Zahl der gebohrten Ölquellen die höchste seit 2016.“ Und rechnet vor: „Die Gesamtzahl der Offshore-Bohrungen im Land lag in den Jahren 2023 und 2024 um 48 Prozent höher als der Durchschnitt unter der Regierung Bolsonaro.“ Lula folgt damit einer Wirtschaftspolitik, die US-Präsident Donald Trump zu Beginn seiner zweiten Präsidentschaft ausgeben hat: „Drill, Baby Drill“.
Nur die „reichen Industrienationen“ schuld am Klimawandel?
Unmittelbar bevor die Polizei in Brasilia Pfefferspray und Tränengas gegen die indigenen Demonstranten einsetzte, hatten deren Sprecher noch scharfe Kritik am Kurs der Regierung sowie jenen Politikern aus allen Lagern der brasilianischen Politik geübt, die das fossile Comeback vorantreiben: „Es existiert ein großer Widerspruch, dass unser Land eine globale Führungsrolle beim Klimaschutz beansprucht und gleichzeitig neue Öl- und Gasexplorationsgebiete erschließt“, sagte Carolina Marçal der Non-Profit-Organisation „ClimaInfo“ auf einer Pressekonferenz.
Der „grüne Diskurs“ der Regierung werde nicht durch die Ausweitung fossiler Brennstoffe gestützt. Und der Kurs passt auch nicht zur regelmäßigen Anklage Lulas gegen die „reichen Industrienationen“, die für den Klimawandel allein verantwortlich wären, wie der Linkspopulist auf seinen Reisen im Globalen Süden verkündet.
Eingeladen zur gemeinsamen Pressekonferenz hatte unter anderem die linke indigene PSOL-Abgeordnete Célia Xakriabá. Sie wurde später von der Polizei attackiert und dabei verletzt: „Der Kongress verabschiedet nicht nur verfassungswidrige Gesetze, sondern greift auch indigene Völker und seine eigenen Abgeordneten an“, hieß es am Wochenende anschließend in einer Erklärung des Büros der Politikerin.
Neben Lulas Ölrausch gibt es auch weitere Expansionspläne, die wenig mit dem selbstgezimmerten Image eines Umwelt- und Klimaschützers zusammenpassen. Im Zuge des Handelsstreits zwischen den USA und China regte Lula an, die Soja-Lieferungen nach Asien auszuweiten. Genau die sind aber in den letzten 25 Jahren hauptverantwortlich für die massive Abholzung des Amazonas-Regenwaldes. In der ersten Amtszeit Lulas (2002-2005) wurde die heute unvorstellbare Fläche von 100.000 Quadratkilometern Regenwald abgeholzt, darauf entstanden riesige Anbauflächen für Soja, das als Tierfutter in China verwendet wird. Ein damals unter Lula installiertes Geschäftsmodell, das bis heute Milliarden-Umsätze generiert und nun weiter ausgebaut werden soll.
Und auch die brasilianische Fleischbranche darf sich freuen. Während deutsche Supermärkte während der Bolsonaro-Zeit publikumswirksam brasilianisches Fleisch aus den Regalen nahmen, um das Klima schützen, stellt der Sektor immer neue Rekorde auf. Im vergangenen Jahr wurden mit der Produktion von 31,57 Millionen Tonnen Rind-, Schweine- und Hühnerfleisch, begleitet von Rekordausfuhren von 10,26 Millionen Tonnen neue Rekordwerte erreicht.
Einer der wichtigsten Botschafter der bei Klimaschützern hochumstrittenen Branche: Lula da Silva. Von einer jüngsten Auslandsreise im März nach Japan ließ er den Präsidentenpalast verkünden: „Brasilien und Japan unterzeichnen Partnerschaft für den Export von brasilianischem Fleisch.“
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.