Neutral betrachtet ist es ja verständlich. Die gerupfte 16-Prozent-Partei SPD muss sich an alles klammern, was irgendwie nach Politik für die arbeitende Mitte klingt.
Denn von tatsächlichen Arbeitern wird die (einstige) Arbeiterpartei fatalerweise kaum noch gewählt. Der Fokus auf höheren Löhnen und weg vom Bürgergeld-Fiasko der letzten Legislatur klingt da zunächst nach einer nachvollziehbaren Strategie. Die Forderung, nein die Drohung von Generalsekretär Matthias Miersch, abermals per Gesetz einzugreifen, sollte die Mindestlohnkommission nicht die gewünschte Erhöhung auf 15 Euro beschließen, ist trotzdem falsch – aus mehreren Gründen.
Zwar würden Millionen von Beschäftigten von mehr Geld profitieren. Aber längst nicht so, wie suggeriert. Einerseits, weil die Preise für Waren und Dienstleistungen steigen würden. Wer die Lohnuntergrenze ad hoc um 17 Prozent anhebt, verschiebt in der Folge das gesamte Tarifgitter nach oben, denn mittlere Gehälter müssten natürlich auch kräftig steigen, um den Abstand zu wahren. Es ist naiv zu glauben, dass Unternehmen einen derartigen Kostenanstieg nicht auf die Preise umschlagen würden.
Andererseits wäre vor allem der Staat selbst der große Gewinner der Erhöhung, weil nicht nur die Lohnsteuersätze, sondern auch die Sozialabgaben deutlich steigen würden.
Unter dem Strich wäre die zusätzliche Belastung der Unternehmen mitunter mehr als doppelt so hoch, als das, was Beschäftigte am Ende mehr im Geldbeutel haben, wie eine Rechnung von WELT zeigt.
Zudem droht Miersch damit, den Koalitionsvertrag aufzukündigen, noch bevor die Regierung überhaupt antritt. Das hat nicht einmal die notorisch zerstrittene Ampel-Koalition geschafft.
Dort steht bewusst schwammig, dass „der Weg zu 15 Euro Mindestlohn im Jahr 2026 erreichbar“ ist – und ganz klar, dass dennoch die zuständige Mindestlohnkommission die Entscheidung über die Höhe trifft. Wenn Teile des Kabinetts ihr aber diktieren, was sie vorzulegen hat, ist das ein Widerspruch und das Gremium selbst schlicht überflüssig.
Und letztlich verscherzt es sich die SPD mit ihrem Vorstoß mit Arbeitgebern und Wirtschaftsverbänden. Auch das ist bemerkenswert für eine Partei, die vor wenigen Wochen noch den „wirtschaftlichen Aufschwung“ und den „Erhalt von Arbeitsplätzen“ als größtes Wahlkampfthema verkaufte.
Bei den Arbeitgeber-Lobbys wird mitunter zwar ausgeblendet, dass der Mindestlohn aktuell tatsächlich zu niedrig ist. Die letzte Entscheidung der Kommission aus dem Jahr 2023 – eine Erhöhung von 12 Euro auf 12,41 und 12,82 Euro – wurde der damals galoppierenden Inflation nicht gerecht und hat für berechtigten Frust gesorgt.
Eine Steigerung des Mindestlohns ist also überfällig. Nicht aber um 17 Prozent auf einen Schlag, wenn gleichzeitig Steuern und Sozialabgaben unangetastet und gleich hoch bleiben und nicht, indem Vereinbarungen gebrochen werden, auf die man sich gerade erst geeinigt hat.
Wie riskant das Manöver ist, dürfte auch Miersch selbst bewusst sein. Man kann seinen Vorstoß auch als Geklapper abtun, um vor dem Mitgliedervotum die eigenen Reihen zu beruhigen und sich der Öffentlichkeit gegenüber als kampfeslustig zu präsentieren. Wenn dann die Kommission im Sommer tatsächlich in Richtung 15 Euro entscheidet, können sich die Sozialdemokraten auf die eigene Schulter klopfen.
Das gelingt aber nur, wenn es tatsächlich so kommt. Liegt der Wert, auf den sich das Gremium einigt, deutlich unter 15 Euro, steht die neue Koalition bereits vor der Zerreißprobe.
Denn dann müsste die SPD die Drohung des abermaligen Eingriffes per Gesetz auch wahrmachen und die Kommission auflösen – was die Union kaum mittragen wird.
Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen. Den zugehörigen Newsletter können Sie hier abonnieren.
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