Sudneyson B. klingt harmlos, als er auf der Anklagebank aus seinem Leben erzählt: Der 24-jährige Niederländer mit dem buschigen Backenbart will seine Einlassung am Freitagmorgen unbedingt auf Deutsch vortragen. Mehrere Geschwister, Schule, Abschluss, einfache Jobs, mit dem „Papa“ habe er auf der Baustelle gearbeitet.

„Papa“ und „Mama“ seien nicht verheiratet, und seinen eigenen kleinen Sohn habe er noch nie gesehen. „Mein größter Wunsch: zusammen zu sein mit meiner Familie“, sagt er in brüchigem Deutsch in Saal 112 des Landgerichts Köln. B. wirkt jungenhaft und arglos.

Die Staatsanwaltschaft Köln hat aber einen ganz anderen Eindruck: Sie hat ihn und seine Komplizen Wesley S., 25, und Dhelmar B., 30, beide ebenfalls Niederländer, wegen mehrerer Straftaten angeklagt: gemeinschaftliche Geiselnahme, gefährliche Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz. Mehrere bewaffnete Polizisten mit Schutzwesten sind im Saal anwesend. Zuschauer werden vor Eintritt in einen mit Sicherheitsglas abgetrennten Teil des Zuschauerraums durchsucht. Taschen müssen abgegeben werden.

Es ist der dritte Prozess, der in dieser Woche am Landgericht Köln begonnen hat, und in Zusammenhang steht mit dem sogenannten Kölner Drogenkrieg. Weitere Anklagen sind zu erwarten. Die Polizei hat Dutzende Tatverdächtige ermittelt, die teilweise in Untersuchungshaft sitzen.

Vor einigen Monaten gab es immer wieder beunruhigende Vorfälle in der viertgrößten Stadt Deutschlands. Bomben explodierten vor Hauseingängen, Schüsse auf Häuser, eine Granate lag unter einem Auto, ein Spezialkommando musste zwei entführte und misshandelte Geiseln aus einer Villa im Stadtteil Köln-Rodenkirchen befreien.

Die Polizei hatte mehrere Ermittlungskommissionen mit Dutzenden Beamten eingerichtet. Ein Verdacht, dass es sich um die berüchtigte „Mocro-Mafia“ handeln könnte – niederländische Banden mit marokkanischem Migrationshintergrund – hat sich bisher nicht bestätigt. Nach Einschätzung der Ermittler geht es bei den Straftaten wohl überwiegend um Abrechnungen unter regionalen Drogenbanden, wobei auch einzelne Niederländer beteiligt waren.

Diese „neue Form der Gewaltanwendung, wie wir sie in Nordrhein-Westfalen erleben, ist in den Niederlanden und auch in anderen europäischen Ländern schon länger Standard in der organisierten Kriminalität. Und wir erleben sie hier erstmalig, stellen uns aber gezielt darauf ein“, sagte vor einiger Zeit Kriminaldirektor Michael Esser von der Polizei Köln.

Über eine Online-Plattform sollen junge Niederländer angeheuert worden sein und gegen Bezahlung an der Geiselnahme und dem Auslösen von Explosionen an Wohnhäusern und Geschäften als Vergeltungsmaßnahmen beteiligt gewesen sein.

„Violence as a service“ – Gewalt als Dienstleistung nennt Europol das Phänomen. Das Prinzip: „Criminals hire criminals“ – Kriminelle heuern Kriminelle an. Die rekrutierten Täter kennen in der Regel weder Auftraggeber noch Hintergründe. Das Geld erhalten sie nach Tatausführung über Mittelsmänner.

„Äußerst professionell und polizeierfahren“

Anlass für die Eskalation in Köln scheint eine Lieferung von 703 Kilogramm Marihuana gewesen zu sein, von denen 350 Kilogramm entwendet wurden. Am Mittwoch wurde der Prozess gegen drei Angeklagte eröffnet, die an dem Transport maßgeblich beteiligt gewesen sein sollen.

Saddam B., 22, Deutsch-Iraker aus Engelskirchen in Nordrhein-Westfalen, und die beiden Kölner Aymen S., 24, Deutsch-Tunesier, und Aymen G., 21, Deutsch-Algerier, gelten laut Anklage als „äußerst professionell und polizeierfahren“ und gehören zu einer großen Bande, die aus einer „Vielzahl“ von Personen besteht, gegen die ebenfalls ermittelt wird.

Der Kopf der Gruppe wird von den Ermittlern „Abdul“ genannt, der wiederum Kontakte in die Niederlande und nach Marokko besitzt. Es gab eine klare Hierarchie und Zuordnungen für Ankauf, Verarbeitung, Weiterverkauf auf der Straße.

Bandenmitglieder sollen Marihuana, Heroin, Kokain und Ecstasy gekauft und in Köln, Frankfurt, Dresden sowie München verkauft haben. Vier junge Frauen sollen die Drogen auch in Discos an Interessenten veräußert haben. Sie kauften einen Kiosk zur Geldwäsche. Die Gruppe verfügte lauf Staatsanwaltschaft über eine „Vielzahl an Waffen“, darunter auch Maschinenpistolen, um vor allem Drogenlager zu bewachen und Konkurrenten einzuschüchtern. Sie seien „bereit, massive körperliche Gewalt“ einzusetzen – auch untereinander.

Konkret geht es um folgenden Sachverhalt in der Anklage. Auf Geheiß von „Abdul“ sollen Saddam B., Aymen S. und Aymen G. am 21. Juni 2024 einen Lkw mit 703 Kilogramm Marihuana auf Paletten, versteckt in Kartons zwischen Chips-Tüten, in einer Lagerhalle nach Hürth bei Köln in Empfang genommen haben. Der Wert der Drogenmenge wird auf etwa drei Millionen Euro beziffert. Das Trio sollte die Lieferung entladen, sortieren, umverpacken und für den Weitertransport vorbereiten. Für die Bewachung soll Chef Abdul 25.000 Euro in Aussicht gestellt haben.

Einer der drei, Aymen G., soll dabei aber einen eigenen Plan verfolgt haben: Mit zwei unbekannten Komplizen soll er einen Tag später, am 22. Juni 2024, die Hälfte der Marihuana-Ladung, also 350 Kilo, gewaltsam gestohlen haben, um sie selbst weiterzuverkaufen. Sie hatten nach Darstellung der Staatsanwaltschaft Maschinenpistolen dabei. B., der das Lager damals bewachte, sei gefesselt worden. In der Anklage heißt es, ihm sei ein Lauf in den Mund gesteckt worden, und er sei mit dem Tode bedroht worden.

Dieser Diebstahl führte zu einer Eskalation, an der wiederum die Angeklagten des am Freitag begonnenen Prozesses beteiligt waren. Die Niederländer Sudneyson B., Wesley S. und Dhelmar B. seien aus Amsterdam nach Köln gereist, um die gestohlene Hälfte der Drogenlieferung aufzuspüren, heißt es in der Anklage. Dabei seien sie ebenfalls zur Lagerhalle in Hürth gefahren. Sie fesselten dort fünf Anwesende unter Waffengewalt mit Kabelbindern auf Stühlen.

Wo das Geld sei, hätten sie immer wieder gefragt und damit die gestohlene Drogenlieferung gemeint. Zeitweise seien den Geiseln Plastiktüten über den Kopf gezogen worden. Die Täter sollen gedroht haben, dass sie ihnen die Fußnägel rausziehen, Zehen abschneiden und die Füße mit heißem Wasser übergießen würden. Sie sollen die Geiseln mit Fäusten und einem Kabel geschlagen haben. Einem Mann sei mit einem machetenartigen Messer in den Arm geschnitten worden, so die Staatsanwältin vor Gericht. Die Opfer konnten nach mehreren Stunden durch einen Hinweisgeber von der Polizei befreit werden.

Zwei Menschen entführt, entkleidet, gefesselt

In einem anderen Prozess, der am Donnerstag begonnen hat, muss sich der 30-jährige Iraker Botan A. verantworten. Er soll Beihilfe zu einer Geiselnahme in diesem Zusammenhang geleistet haben. Dabei geht es um eine Frau und einen Mann aus Bochum, die in eine gemietete Villa nach Köln-Rodenkirchen verschleppt wurden.

Damit sollte erreicht werden, dass der Bruder des Mannes, das gestohlene Marihuana zurückgibt oder eine siebenstellige Summe zahlt. A. soll die beiden Opfer unter dem falschen Vorwand, dass er Marihuana kaufen wolle, in ein Fahrzeug gelockt haben.

Die beiden Opfer wurden in der Villa in Köln entkleidet, gefesselt. Dabei wurde der Mann schwer misshandelt. Videoaufnahmen seien gemacht worden, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, heißt es in der Anklage. Eine Spezialeinheit befreite die Geiseln am 5. Juli 2024.

Für die drei Prozesse vor dem Landgericht Köln sind jeweils zwischen zwölf und 18 Verhandlungstage angesetzt.

Politikredakteur Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, vor allem in Nordrhein-Westfalen.

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