Seine Worte haben politisch und theologisch weltweit großes Gewicht. Kardinal Pierbattista Pizzaballa ist Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche in Jerusalem und vertritt damit die größte Glaubensgemeinschaft der Welt im Heiligen Land. Im Interview mit dem Nachrichtensender WELT im Lateinischen Patriarchat in der Jerusalemer Altstadt spricht der Italiener über den Nahost-Konflikt, Reformen der Kirche – und formuliert Kritik am Papst. Ein Überblick.

Geiseln und Waffenruhe

Unmittelbar nach dem 7. Oktober hatte sich Kardinal Pizzaballa als Austausch für die von der Hamas verschleppten Geiseln angeboten. Nun hoffe er, dass die Verhandlungen bald Ergebnisse zeigen. „Falls es scheitert, wird es eine sehr problematische, sehr katastrophale Situation geben, noch schlimmer als jetzt“, sagte der Kardinal.

Der israelischen Regierung warf er vor, keine Vision für die Zeit nach dem Krieg zu haben. „Palästinenser und Israelis werden weiter hier leben, sie brauchen eine Vision, sie brauchen einen Rahmen, um in diesem Land zu leben, einer in der Nähe des anderen.“ Allerdings gebe es auch sehr große Unterschiede bei den Positionen der Palästinenser, deren Gesellschaft sei zersplittert. „Das ist Teil des Problems.“

Situation in Gaza

Als einer von wenigen Kirchenvertretern hat Pizzaballa mehrfach den Gaza-Sreifen besucht, rund 600 Christen leben noch dort. „Man findet kilometerweit kein einziges stehendes Haus. Berge von Müll, dieser Geruch, weil das Abwassersystem nicht funktioniert. Der erste Eindruck ist ein verlassenes Land und die Menschen, die dort noch leben, mitten im Nichts und Nirgendwo“, sagte der Kardinal.

Sie versuchten, die christliche Gemeinde zu schützen so gut sie können. Zudem liefere seine Kirche derzeit Essen für rund 40.000 Menschen in das Kriegsgebiet. „Wir sind ziemlich aktiv, aber die Situation ist katastrophal.“ Zur Frage, ob israelische Behörden die Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen zulassen, sagte Pizzaballa: „Das ist derzeit sehr kompliziert, aber in den letzten Monaten war es möglich. Am Ende haben wir auch Hartnäckigkeit, und wenn wir darauf bestehen und Druck ausüben müssen, können wir das auch tun.“

Siedlungen

Auf die Frage, ob die Kirche den Landbesitz von Christen in der Westbank vor israelischen Siedlungen und der Vereinnahmung von Islamiten schützen könne, sagte der Kardinal: „Wir sind sehr aktiv, so gut wir können. Wir haben keine Armee. Wir sind eine kirchliche Einrichtung. Also appellieren wir an die Behörden, an die internationale Gemeinschaft, sich zumindest der Probleme dort bewusst zu sein.“ Es scheint, als würde das Westjordanland zu einem Land ohne Autoritäten werden. „Das Einzige, was wir haben, sind Worte.“

Zukunft der Christen

Unter israelischer Besatzung, aber auch dem wachsendem Einfluss von Islamisten sehen viele Christen keine Zukunft mehr in der Westbank. Pizzaballa geht aber nicht davon aus, dass Christen langfristig aus der Region verschwinden. „Wir werden zwar weniger werden, aber es wird hier nicht zu einer Art Nordafrika“, sagte Pizzaballa. Man müsse auch die Geschichte betrachten. „Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit Schwierigkeiten und Tragödien konfrontiert sind.“ Es sei kein Drama, eine Minderheit zu sein, auch wenn das für Europäer vielleicht dramatisch klinge.

Jerusalem als Modell für Ökumene

Kardinal Pizzaballa sieht Jerusalem als ein Modell der neuen Ökumene. „Jerusalem ist der einzige Ort, an dem die Kirchen zusammenleben, an dem alle Kirchen nichts allein tun können.“ Zwar gebe es „hier und da einige Engstirnige, unter den Orthodoxen, aber auch unter den Katholiken.“ Aber im Allgemeinen sei die Situation viel besser geworden. „Wir sind in der Lage, gemeinsame Projekte aus sozialer Sicht zu organisieren, Wohnprojekte, Schulen.“ Die Wunden der Kirchenspaltung seien noch nicht verheilt. Aber Jerusalem zeige, dass es eine Möglichkeit gebe, „als Kirchen gelassen zusammenzuleben“.

Kritik am Papst

Auf die Frage, ob die Entwicklung der Ökumene in Jerusalem vom Papst gefördert wird, antwortet Pizzaballa: „Das ist eine schwierige Frage, denn ich möchte nicht respektlos sein. Aber ehrlich gesagt, nicht so sehr. Natürlich hat Papst Franziskus dazu beigetragen, die internationale, die allgemeine universelle Atmosphäre zu schaffen. Aber Jerusalem hat seine eigene innere Dynamik, die völlig unabhängig von allem ist, was um uns herum geschieht.“

Zur Frage der Unfehlbarkeit des Papstes sagt Pizzaballa: „Für die Katholiken ist das ein Dogma, aber es kommt darauf an, wie man es definiert, wie man es interpretiert.“ Selbst jetzt werde die Unfehlbarkeit nur sehr selten verwendet, sie bedeute nicht, dass alles, was der Papst sagt, von Gott kommt. „Gott bewahre, niemand denkt so“, sagte Pizzaballa.

Zur Frage, ob Frauen in der katholischen Kirche eine größere Rolle spielen sollen, sagte der Kardinal, dafür müsse es einen weltweiten Konsens geben. Eine Kirche der zwei Geschwindigkeiten, etwa im Norden und Süden des Globus, lehnt er ab. „Wir haben nicht zwei katholische Kirchen. Wenn es einen allgemeinen Konsens innerhalb der katholischen Kirche und der gesamten Kultur gibt, kann darüber diskutiert werden, aber auf angemessene Weise.“

Synodaler Weg

Gespräche über eine basisdemokratische Kirche in Deutschland sieht der Patriarch als Diskussion von Eliten. Angesprochen auf den Synodalen Weg, eine Reformbewegung innerhalb der römisch-katholischen Kirche in Deutschland, antwortet Pizzaballa: „Ich frage mich, ob der Synodale Weg, wie Sie ihn nennen, ein echter Ausdruck aller Katholiken ist oder nur der Elite.“ Er selbst verfolge zwar nicht die Ereignisse in Deutschland. Aber man müsse jene, die diesen Weg beschreiten wollen, fragen, „ob sie Teil der katholischen Kirche sein wollen oder allein perfekt sein wollen.“

Managing Editor Philip Volkmann-Schluck berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.

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