Am Morgen der Verhaftung unterdrückt Dilek Imamoglu ihre Gefühle und schaltet gewissermaßen in den Autopiloten. Sie nimmt ihr Smartphone, richtet es auf ihren Ehemann und startete die Aufnahme. Zu sehen ist Ekrem Imamoglu in einem Ankleideraum, wie er sich eine Krawatte umbindet. Er sagt, dass hunderte Polizisten vor seinem Haus stünden. Dass er nicht aufgeben werde. Wenige Minuten später wird er abgeführt. Das Video, gepostet auf der Plattform X um 7:12 Uhr, wird millionenfach angeschaut.
Wie die frühen Stunden des 19. März abliefen, hat Dilek Imamoglu nun in einem Interview mit der türkischen Zeitung „Nefes“ erzählt. Es sei ihre Pflicht gewesen, die Öffentlichkeit zu informieren. In diesem Moment habe sie „große Entschlossenheit“ empfunden, sagte sie.
Seit ihr Ehemann im Gefängnis sitzt, hat sich Imamoglus Leben dramatisch verändert. Dem Istanbuler Oberbürgermeister werden Korruption und Terrorismus vorgeworfen. Hunderttausende Menschen gingen gegen seine Festnahme auf die Straße. Sie werfen der Regierung vor, Imamoglu mithilfe der Justiz ausschalten zu wollen. Er gilt als aussichtsreichster Rivale des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Immer vorn dabei: Dilek Imamoglu. Kaum eine Wahlveranstaltung in Istanbul, auf der sie nicht das Mikrofon ergreift. „Einige werden zu Fall kommen“, schrieb auf der Plattform X – eine Kampfansage an Erdogan.
Dilek Imamoglu ist zu einem prominenten Gesicht der Opposition geworden, ohne selbst ein politisches Mandat zu haben. Schon früh legte sie sich mit mächtigen Männern an. Die 50-Jährige kommt aus Trabzon, einem Ort an der türkischen Schwarzmeerküste, der für Tee- und Haselnussanbau bekannt ist und knapp 200 Kilometer von der georgischen Grenze entfernt liegt.
Sie wuchs als jüngste Tochter in einer Familie mit zehn Kindern auf, davon drei Jungen. Das Leben in der Region ist von Konventionen und Traditionen geprägt, Religion spielt eine große Rolle. Ihr Vater sei ein Mann mit Autorität gewesen und sie selbst eine Tochter mit einem „rebellischen Geist“, sagte sie mal in einem Interview.
Nur der Vater und die Brüder gingen arbeiten, ihre Mutter und Schwestern seien nicht berufstätig gewesen. Sie, die jüngste Tochter, wollte es anders machen. Als Grundschülerin begann sie in den Sommerferien im Textilgeschäft ihres Bruders zu jobben. Zu Hause hinterfragte sie die Rolle des Vaters: „Ich sagte immer: ‚Mama, du bist auch hier, du bemühst dich auch, du solltest ein Mitspracherecht haben.‘“ Auch ihre Schwestern habe sie getadelt, wenn diese sich zu sehr nach den Wünschen des Vaters richteten. Die wiederum hätten sie für die häufigen Streitereien in der Familie verantwortlich gemacht. Das Verhältnis zum Vater war belastet.
Für Dilek Imamoglu ist das Private politisch. Ihr Verhältnis zum Vater habe sich mit den Jahren entspannt, heute sei es innig, sagt sie. Mit ihrem Mann Ekrem spricht sie später oft über seine Beziehung zur gemeinsamen Tochter Beren, damit sie nicht ähnliche Erfahrungen macht wie sie selbst.
Als sie die Sekundarschule besuchte, zog die Familie nach Istanbul. 1993 heiratete ihre Schwester – und Dilek, damals 19 Jahre alt, lernte auf der Feier den drei Jahre älteren Ekrem kennen. Wie sie arbeitete auch er in einem Familienbetrieb, einem Imbiss für Köfte.
Dem Fernsehsender Halk TV erzählten sie später von ihrer ersten Begegnung. Einer ihrer Brüder sei mit Ekrem befreundet gewesen und habe ihn zur Feier mitgebracht, erinnert sich Dilek. Ihr Mann unterbricht sie: „Das war eine kritische Situation! Ein Freund ihres Bruders. Oder aus meiner Sicht, die Schwester meines Freundes. Oje, oje.“ Dilek lacht. Solche Auftritte lassen das Paar volksnah erscheinen.
Ihre ersten Kinder kommen während des Studiums
Zwei Jahre später heirateten sie, wiederum zwei Jahre später wird der erste Sohn Selim geboren. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dilek Imamoglu gerade die Aufnahmeprüfung an der Universität bestanden. Um sich um das Baby zu kümmern, unterbricht sie ihre akademische Ausbildung für drei Jahre. Während ihres Master-Studiums kommt der zweite Sohn, Semih, zur Welt, wieder legt sie eine Pause ein. Ihr Studium der Betriebswirtschaft nimmt sie später wieder auf.
In ihrer Abschlussarbeit macht sie die „gläserne Decke“ zum Thema: unsichtbare Hürden, die Frauen am Aufstieg in Führungspositionen hindern. Im Jahr 2011 kommt das dritte Kind, ihre Tochter Beren, zur Welt. Die Mutter promovierte später, der Vater war zu dieser Zeit Bezirksvorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) im Istanbuler Stadtteil Beylikdüzü.
Obwohl sie die Kindererziehung übernahm, und ihr Mann zu einer politischen Größe wurde, wollte Dilek Imamoglu nie nur eine repräsentative Ehefrau sein. „Zwischen Ekrems geschäftigem Leben, dem Berufsleben und der Politik erklommen wir gemeinsam die Karriereleiter“, sagt sie. Ihr eigener Werdegang ist ihr wichtig, gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass für Frauen teils andere Spielregeln gelten als für Männer – besonders in der Türkei.
„Wir tragen die Verantwortung für das Kind“
Dort liegt der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen bei 36 Prozent, niedriger als der globale Durchschnitt. „Wir können nicht wie Männer einfach ein Ziel ins Auge fassen und unbeirrt darauf losgehen“, sagt sie. „Wir tragen die Verantwortung für das Kind, für den Haushalt, für die eigene Familie – und auch für die Familie unseres Partners.“ Deshalb sei der Weg der Frauen oft langsamer als jener der Männer.
Dilek Imamoglu versteht sich als Anwältin für Frauen und Minderheiten. 2014 verbrachte sie einen Tag im Rollstuhl, um auf die alltäglichen Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, mit denen Menschen mit körperlichen Einschränkungen konfrontiert sind.
Spätestens seit der Verhaftung ihres Mannes ist Dilek Imamoglu zur politischen Stimme geworden. Sie spricht über ihre Situation, nicht über Parteipolitik. Ihre Rolle hat sie sich nicht ausgesucht, aber sie füllt sie wie selbstverständlich aus. Ihr komme eine zentrale Funktion bei der Gestaltung der öffentlichen Debatte zu, sagt Politikwissenschaftler Berk Esen.
„Zudem dient sie als Vorbild – als moderne, junge Politikergattin, die selbstbewusst auf die Bühne tritt. Sie ist eindeutig säkular und zeigt sich unbeugsam.“ Aber weil sie zugleich aus einem konservativen Umfeld am Schwarzen Meer stamme, könne Imamoglu verschiedene Segmente der türkischen Wählerschaft ansprechen.
Politische Ambitionen weist sie zurück
Dilek Imamoglu erzeugt positive Presse, nicht nur in der Türkei, auch international. Dabei achtet sie darauf, wie sie wahrgenommen wird. Interviews gibt sie derzeit nur schriftlich. Politische Ambitionen weist sie bislang zurück. Der Politiker des Hauses heiße Ekrem, bekräftigte sie mehrfach. Trotzdem kann sie nicht verbergen, dass sie ein durch und durch politischer Mensch ist. Für die CHP habe sie in jeder Wahl gestimmt, seit sie volljährig ist, sagt sie. Sie sei ein Mensch, „der die Republikanische Volkspartei in jeder Zelle spürt“. Sie hat auch ohne Mandat großes politisches Gewicht.
Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.
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