Weil das Hilfswerk UNRWA nur für palästinensische Flüchtlinge zuständig ist, ist es politisch so umkämpft wie keine andere UN-Organisation. Nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 warf Israels Regierung vielen Mitarbeitern des Hilfswerks tiefgehende Verstrickungen mit der Terrororganisation vor und konnte das in einzelnen Fällen auch belegen. Trotzdem ist der Schritt, den Jerusalem nun gegangen ist, einmalig in der Geschichte des Nahost-Konflikts.
Seit Februar dieses Jahres darf UNWRA nicht mehr auf israelischem Staatsgebiet arbeiten. Damit endet eine seit 1949 laufende Zusammenarbeit. Laut dem UNRWA-Direktor für das Westjordanland und Ost-Jerusalem, Roland Friedrich, untergrabe dieser Schritt massiv die Stabilität in den von Israel besetzten Gebieten. „Wir erleben seit Jahren eine systematische Kampagne zur Delegitimierung der UNRWA-Arbeit“, sagte Friedrich im Gespräch mit WELT.
„Wir hatten im Westjordanland eine vertrauensvolle Kooperation mit den israelischen Behörden“, sagt Friedrich. „Vor dem Kontaktverbot wurden wir von den israelischen Streitkräften (IDF) über Beginn und Ende von Militäroperationen informiert. Wir wussten, wann wir Schulen schließen mussten.“ Das habe dem Hilfswerk seit dem 7. Oktober die Evakuierung von 25 Schulen im Westjordanland ermöglicht.
Friedrich verantwortet eines von fünf Einsatzgebieten der UNRWA, deren Entstehung unmittelbar mit der Israels zusammenhängt. Im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 mussten etwa 800.000 Palästinenser das Gebiet verlassen, auf dem Israel gegründet wurde. Sie flohen in den Gaza-Streifen, das Westjordanland, den Libanon und nach Jordanien und Syrien.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) gründete die UNRWA und erteilte ihr 1949 ein humanitäres Mandat. Die Agentur soll sich um diese Palästina-Flüchtlinge im Hinblick auf Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Hilfe kümmern, bis eine dauerhafte Lösung für ihre Notlage gefunden wird.
Der Nahost-Konflikt aber ist bis heute nicht gelöst. Weder durften die Flüchtlinge zurückkehren, noch wurden sie in die Aufnahmeländer Syrien und Libanon integriert und eingebürgert, noch entstand ein palästinensischer Staat im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Aus den 800.000 staatenlosen Palästinensern sind inzwischen sechs Millionen geworden.
Hinzu kommt: Im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzte Israel das Westjordanland und den Gaza-Streifen. 2005 verließen die Israelis den Gaza-Streifen, wo später die radikal-islamistische Hamas die Macht übernahm. Das Westjordanland mit 3,6 Millionen dort lebenden Palästinensern steht bis heute unter geteilter Kontrolle der Israelis und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die vom säkularen Hamas-Konkurrenten, der Fatah, dominiert wird.
Überprüfung von Mitarbeitern im Westjordanland
Friedrich betont, dass die UNRWA in Ost-Jerusalem und im Westjordanland vor einer anderen Ausgangssituation steht als im von der Hamas dominierten Gaza-Streifen: „Die Überprüfung von 13.000 Mitarbeitern im Gaza-Streifen ist eine andere Herausforderung als die von 4000 Mitarbeitern im Westjordanland. Unser Personal braucht israelische Genehmigungen, um Ost-Jerusalem zu erreichen und ist somit durch die israelischen Behörden schon überprüft. Darüber hinaus wurde unsere humanitäre Arbeit im Gaza-Streifen stets mit den israelischen Behörden abgestimmt. Das wird jetzt stark ausgeblendet.“
Seit Mitte Januar fahren die IDF ihre größte Militäroperation seit 20 Jahren. Mit der Operation „Eiserne Mauer“ will Israel die Etablierung einer neuen Terrorfront in den palästinensischen Gebieten verhindern und Terrorangriffe unterbinden. Nach eigenen Angaben hat die IDF mehr als 2000 Terroranschläge aus dem Westjordanland seit dem 7. Oktober 2023 verhindert. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef sind durch die israelische Militäroperation wiederum 40.000 Palästinenser in Dschenin, Tulkarm und Tubas zu Binnenflüchtlingen geworden. Darunter sind laut UNRWA-Direktor Friedrich auch 6000 Schulkinder.
Zur Debatte über UNRWA gehört auch die alarmierende humanitäre Lage im abgeriegelten Gaza-Streifen. Mitte März endete eine kurze Phase der Waffenruhe. Israel fordert die Freilassung der verbleibenden Geiseln und blockiert derzeit Hilfslieferungen. Die israelischen Koordinationsstellen für humanitäre Hilfe dürfen gemäß dem Anti-UNRWA-Gesetz mit der UN-Agentur nicht kommunizieren und betrachten das Hilfswerk als eine Terrororganisation.
Ebendiese Gleichsetzung von UNRWA und der radikal islamistischen Hamas lehnt Friedrich ab: „Das spiegelt die Realität nicht wider und gefährdet das Leben unserer Mitarbeiter.“ Im Gaza-Streifen seien Angestellte der Hilfsorganisation vielmehr als „Importeure westlicher Werte und Kollaborateure mit den Israelis“ von der Hamas angefeindet worden.
Hochrangige Mitarbeiter hätten „Briefumschläge mit Patronen“ erhalten. Jeden Verdacht darüber, dass die Hamas Tunnel unter Schulen baut, habe das Hilfswerk den israelischen Behörden gemeldet, beteuert Friedrich. „Dass die Vereinten Nationen im Rahmen von Konflikten als neutraler Akteur von allen Seiten angefeindet wird, ist nicht unüblich.“ Die Neutralität der UN steht jedoch immer wieder infrage. Israel etwa wirft UN-Institutionen Voreingenommenheit und Israel-Feindlichkeit vor.
Derweil hat sich die Lage der Palästinenser seit dem 7. Oktober 2023 nicht nur im Gaza-Streifen drastisch verschlechtert. Neben der eingeschränkten Bewegungsfreiheit durch israelische Checkpoints haben rund 150.000 Palästinenser aus dem Westjordanland ihre Arbeitserlaubnis in Israel verloren. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation schrumpfte die Wirtschaftsleistung im Westjordanland im Folgejahr um rund 22 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt jetzt bei rund 35 Prozent.
Unter diesen Umständen trage das UNRWA zur Stabilität im Westjordanland bei, argumentiert Friedrich. Das UN-Hilfswerk betreibt 96 Schulen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Dort ist die Organisation für die Bildung von 45.000 Kindern verantwortlich. Ohne die Arbeit der UNRWA gäbe es im Westjordanland „weniger Bildung, mehr Arbeitslosigkeit, mehr Radikalisierung: eine explosive Mischung“.
Zugleich, so Friedrich, brauche die Region „eine Rückkehr zu einem Minimum an Stabilität und Hoffnung auf Frieden in der Zukunft. Wenn das Westjordanland kippt, wird es sich nicht darauf beschränken. Die UNRWA-Arbeit hat nicht nur humanitäre, sondern auch sicherheitspolitische Relevanz für Israel und die Region“.
Das UNRWA-Verbot der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zielt offenkundig auf die Flüchtlingsfrage – eine der größten Streitfragen im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Während die Palästinenser auf Rückkehr oder Reparationen für die Nachkommen der 1948 Vertriebenen bestehen und ihre Forderung mit UN-Resolutionen begründen, interpretieren die Israelis diese UN-Resolutionen anders.
Die israelische Seite argumentiert vor allem damit, dass auch die jüdische Bevölkerung aus arabischen Ländern vertrieben wurde und die Rückkehr von sechs Millionen Palästinensern nach Israel das Ende des jüdischen Staates bedeuten würde.
In diesem Kreuzfeuer befindet sich das Hilfswerk. „Die Vorstellung, dass mit der Abschaffung der UNRWA auch das politische Problem verschwindet, das Mitglieder der israelischen Regierung mit den international verbrieften Rechten von Palästina Flüchtlingen haben, ist illusorisch“, sagt Friedrich.
Verstrickungen zwischen UNRWA und Terrororganisationen
Bereits 2018 hatte Netanjahu das UN-Hilfswerk ins Visier genommen, weil es aus seiner Sicht das palästinensische Flüchtlingsproblem verewige: „Die UNRWA muss verschwinden.“ Bereits damals standen Vorwürfe der Verstrickung mit der Hamas im Raum. Ein prominenter aktueller Fall ist Fatah al-Sharif, Vorsitzender der UNRWA-Lehrergewerkschaft im Libanon und gleichzeitig führender Hamas-Kommandeur im Land.
Erst nach der Suspendierung von al-Sharif im März 2024 habe die UNRWA von seiner Hamas-Funktion erfahren, kommentierte der UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini. Im September 2024 wurde al-Sharif bei einem israelischen Luftangriff getötet. In der Mehrheit der Fälle hat die UN-Agentur die israelischen Vorwürfe stets zurückgewiesen.
Seit 2015 untersucht die israelische NGO UN Watch die Verstrickungen zwischen dem Hilfswerk und islamistischen Terrororganisationen wie der Hamas und dem Islamischen Dschihad. Die Berichte von UN Watch zeigen Defizite vor allem im Gaza-Streifen und im Libanon. Im Westjordanland als UNRWA-Einsatzgebiet ist die Lage anderes.
Während im Gaza-Streifen und im Libanon Terrororganisationen wie die Hamas und die Hisbollah über Jahre hinweg das Sagen hatten, konnten solche Organisationen im Westjordanland nicht flächendeckend Fuß fassen. Hinzu kommen die israelischen Sicherheitsprüfungen für das UNRWA-Personal im besetzten Westjordanland, die solche terroristischen Verbindungen erschweren.
Das sieht aber inzwischen ein Großteil der Israelis anders. In einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr hielten 71 Prozent der jüdischen Israelis die Probleme der UN-Organisation für systematisch. In der Knesset stimmte eine Mehrheit von 92 zu zehn Abgeordneten für das UNRWA-Betätigungsverbot.
Vergangene Woche schloss das israelische Bildungsministerium sechs Schulen des Hilfswerks in Ost-Jerusalem. Für 800 Schüler endet damit das Schuljahr vorzeitig. In welchen Schulen sie das kommende Schuljahr beginnen werden, ist noch offen. Ebenso wie die Frage, wie andere UNRWA-Leistungen ersetzt werden sollen.
Amin Al Magrebi ist Volontär bei WELT. Seine Stammredaktion ist Business Insider.
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