Bei den französischen Sozialdemokraten ist nach dem umstrittenen Wahlbündnis mit den Linkspopulisten ein Richtungsstreit entbrannt. Vor dem nächsten Parteitag Mitte Juni wird der Parteivorsitz gewählt. Olivier Faure, seit 2018 Chef der Parti Socialiste (PS), ist zuversichtlich, dass er sein Amt behalten wird. Der Regierung droht er mit einem Misstrauensvotum. Schon jetzt steht fest: Die Tage von Regierungschef François Bayrou sind gezählt.

WELT: Ihre Partei hat Anfang Dezember die Regierung von Michel Barnier gestürzt. Tragen Sie Mitverantwortung für die Sackgasse, in der Frankreich heute steckt?

Olivier Faure: Das zu behaupten, ist eine kühne Verdrehung der Tatsachen. Fakt ist, dass Emmanuel Macron sich über die republikanische Tradition hinweggesetzt hat, wonach der Präsident einen Regierungschef der Koalition benennen muss, die am meisten Stimmen bekommen hat. Das ist Macrons Ursünde seit der Auflösung der Nationalversammlung, die er ganz allein beschlossen hat. Seither beweisen wir Verantwortung vor allem in internationalen Fragen. Man kann uns nichts vorwerfen.

WELT: Ihre Koalition mit dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ist geplatzt. Hätte dieses Wahlbündnis angesichts der Differenzen überhaupt überleben können?

Faure: „La France Insoumise“ (LFI, Mélenchons Partei, Anm. d. Red.) wird gern als Vogelscheuche benutzt, um uns vor dem Parteitag zu diskreditieren. Aber wir haben uns ihnen zu keinem Zeitpunkt unterworfen und immer klar gesagt, wenn wir anderer Meinung waren. In internationalen Fragen und der Europapolitik haben wir uns inzwischen weit voneinander entfernt.

WELT: Kann man nach den antisemitischen Äußerungen Mélenchons davon ausgehen, dass dieser Bruch endgültig ist?

Faure: Wir haben uns von Mélenchon klar getrennt und er sich auch von uns. Er sagt selbst, dass es unter keinen Umständen eine Allianz mit dem Rest der Linken geben wird. Er wird bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat von LFI antreten. Wir wollen nie mehr von einer radikalen Linken abhängen, die uns von Teilen unserer Wählerschaft entfernt und außerdem das Risiko eingeht, dass kein linker Kandidat in die Stichwahl kommt.

WELT: Ex-Premierminister Michel Barnier behauptet, dass er aus rein ideologischen Gründen von Ihnen gestürzt wurde – weil er nicht links ist und diese Entscheidung von vornherein festgestanden hat. Sind die Sozialisten so verbohrt?

Faure: Nein. Wir haben Barnier gestürzt, weil er nicht mit uns verhandeln wollte, obwohl er dank der Stimmen der Linken an die Macht gekommen war. Und dank unserer republikanischen Brandmauer, die Barniers Partei, die Konservativen, verweigert hatte. Sich dann hinzustellen und mit dem Rassemblement National (RN) zu verhandeln, ist, vorsichtig formuliert, eigentümlich.

WELT: Seinen Nachfolger, François Bayrou, haben Sie bislang verschont. Warum?

Faure: Nicht, weil wir mit seiner Politik einverstanden wären, sondern weil er akzeptiert hat, mit uns zu verhandeln. Er hat die Debatte der beschlossenen Rentenreform wieder eröffnet und diskutiert mit den Sozialpartnern. Wir werden sehen, was dabei herauskommt, aber wir werden uns nicht auf die Füße treten lassen. Ein Misstrauensvotum ist wieder aktuell. Wenn am Ende das Konklave über die Rentenreform im Parlament nicht abstimmen darf, dann rufe ich die gesamte Linke dazu auf, einem Misstrauensvotum zuzustimmen. Und wir werden sehen, ob sich der RN dem anschließt oder nicht.

WELT: Barnier wollte weniger einsparen als die Reduktion von etwa 40 Milliarden, die Bayrou gerade für den Haushalt 2026 angekündigt hat. Er wurde trotzdem gestürzt. Könnte schon das nächste Finanzgesetz ein Anlass für Sie sein, die Regierung zu stürzen?

Faure: Selbstverständlich. Die Regierung beharrt stur auf ihren Fehlern und sorgt dafür, dass wir bald 1000 Milliarden Euro zusätzliche Schulden haben. Jedes Jahr verlieren wir 80 Milliarden wegen neuer Steuergeschenke. Am Ende der zehn Jahre von Macrons Amtszeit werden das 800 Milliarden sein. Die Regierung behauptet, die Steuern nicht zu erhöhen. In Wahrheit zahlen alle mehr, nur die Superreichen werden verschont. Gespart wird bei der sozialen Absicherung und im öffentlichen Dienst. Das betrifft nicht die Reichen, sondern diejenigen, die am wenigsten haben.

WELT: Das wäre die vierte Regierung innerhalb eines Jahres, die politische Instabilität würde zum Normalzustand. Vergraulen Sie damit nicht die letzten Wähler, die sich nach Stabilität sehnen?

Faure: Ich bin mir sicher, dass die Wähler keine Regierung wollen, die ihnen weitere 40 Milliarden Einsparungen ankündigt, ohne einen einzigen Centime von den Superreichen oder den Unternehmen zu holen.

WELT: Ihre Partei fordert nach wie vor eine Rückkehr zum Renteneintrittsalter von 62 Jahren. Was muss bei dem Renten-Konklave herauskommen, dass sie die Regierung nicht stürzt?

Faure: Bayrou hat sein Wort gegeben, dass die Vereinbarung, welche Regierung und Sozialpartner treffen, vom Parlament abgesegnet wird. Die Nationalversammlung muss das letzte Wort haben. Auch mir ist bewusst, dass wir in Sachen Renteneintrittsalter im europäischen Vergleich herausstechen. Wir geben 14 Prozent des Bruttosozialprodukts für die Rente aus, aber ich finde das nicht empörend. Wir sind dafür auch diejenigen, die am wenigsten arme Rentner haben.

WELT: Wie wollen Sie dieses Sozialmodell angesichts des Schuldenbergs weiter finanzieren?

Faure: Indem wir die Steuern der Superreichen erhören. Das Vermögen der 500 wohlhabendsten Familien Frankreichs hat sich in der Amtszeit von Macron von 600 Milliarden auf 1200 Milliarden Euro verdoppelt. Währenddessen mussten alle anderen den Gürtel enger schnallen, weil wir entweder in einer Gesundheitskrise, einer Energiekrise oder einer geopolitischen Krise steckten. Ich plädiere dafür, zu einer Auffassung von Gerechtigkeit zurückzukehren, die seit Langem verloren gegangen ist.

WELT: Macrons Pro-Business-Politik hat aber Wirkung gezeigt. Unternehmen stark zu besteuern, wird das nicht die Arbeitslosigkeit wieder steigen lassen?

Faure: Die Abschaffung der Vermögenssteuer hat nicht zu höheren Investitionen geführt. Unser Sozialmodell hat seinen Preis. Aber Patriotismus bedeutet auch, dass man nicht will, dass es den Menschen im eigenen Land schlecht geht. Wenn ich Milliardär wäre, fände ich es normal, entsprechend besteuert zu werden. Auch das ist Vaterlandsliebe.

WELT: Ihre Partei ist gespalten. Ex-Präsident François Hollande plädiert dafür, dass man die Regierung nicht stürzen, Neuwahlen vermeiden und sich besser auf die Präsidentschaftswahlen vorbereiten sollte. Hat er recht?

Faure: Ich persönlich habe keine Angst vor den Wählern und bin zu Neuwahlen bereit. Die sind aber erst ab Juli möglich, vorher kann Macron die Nationalversammlung nicht auflösen – was auch nicht in seinem Interesse ist. Mit Hollande bin ich nicht einer Meinung, weil er uns zu Hilfstruppen der Regierung Bayrou machen will. Er hat offen gesagt, warum. Die Regierung soll bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 nicht gestürzt werden, weil er gern selbst bei den Wahlen antreten und sich auf den Wahlkampf vorbereiten will.

WELT: Wenn es zu einer Auflösung des Parlaments kommt, profitiert dann nicht vor allem der RN?

Faure: Ich fürchte ja.

WELT: Hat die Verurteilung von Marine Le Pen den Aufstieg nicht gestoppt?

Faure: Nein, weil die Wut der Franzosen, die sich der extremen Rechten nahe fühlen, nach wie vor ungebrochen ist. Sie haben verstanden, dass es einen Deal geben kann. Jordan Bardella wäre Präsident, sie Premierministerin – aber die Chefin.

WELT: Dass Bardella in den Umfragen gleichauf mit Le Pen liegt, ist ein Anzeichen dafür, dass es sich nicht mehr um Protestwähler, sondern um Zustimmung handelt. Haben die Regierungsparteien wie die Ihre versagt?

Faure: Sicher, für uns, die wir seit Jahrzehnten den Rechtsextremismus bekämpfen, ist das ein Versagen. Deshalb ist die soziale Linie, die ich vertrete, meines Erachtens der einzige Weg, den RN zu bekämpfen. Die Rechte der Franzosen weiter einzuschränken gibt der Partei neuen Treibstoff.

WELT: Wie ihre europäischen Schwesterparteien haben auch Sie die unteren Wählerschichten an Rechtspopulisten verloren. Wie können Sie diese zurückgewinnen?

Faure: Durch Beständigkeit und Kohärenz. Genau das hat während der Amtszeit von Hollande gefehlt. Wir standen zeitweise im Widerspruch zur eigenen Linie. Heute fragen sich viele Franzosen, wer wir eigentlich sind. Sind wir Quasi-Macronisten? Ich plädiere dafür, zu unseren Grundwerten zurückzukehren und wieder an unsere Geschichte anzuknüpfen.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik

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