In diesem Prozess gaukelt die Justiz den Menschen – oder sich selbst – etwas vor. Vor dem Oberlandesgericht in Celle stehen vor allen Eingängen je zwei Polizisten mit Maschinenpistolen, sie tragen Skimasken, damit man sie nicht erkennt, und mustern jeden, der sich ihnen nähert. Überall weht Flatterband durch die Gegend, Mannschaftswagen der Polizei versperren die Bürgersteige. Hier passiert etwas Wichtiges, soll das wohl bedeuten.

Tatsächlich hat sich in einiger Entfernung vor dem Eingang ein Häuflein Demonstranten versammelt, von denen augenscheinlich keine Gefahr auszugehen scheint: Sie haben die Altersgrenze zum Ruhestand klar überschritten und wirken nicht so, als planten sie heimlich eine Gefangenenbefreiung – haben aber immerhin ein Plakat aufgehängt, auf dem steht: „Freiheit für Daniela Klette.“ Was sie damit meinen, wird nicht klar; einen Gesprächsversuch von WELT blockt eine Teilnehmerin der Aktion mit dem Satz ab: „Keiner sollte ins Gefängnis.“

Doch genau da, in der Untersuchungshaft, sitzt die 66-Jährige nun. Klette steht wegen des Verdachts der Beteiligung des Raubüberfalls auf Geldtransporter vor dem Landgericht Verden. Denn Klette lebte mit ihren beiden Gesinnungsgenossen Burkhard Garweg, 56, und Ernst-Volker Staub, 70, jahrzehntelang im Untergrund.

Da sie kaum arbeiten konnten, ohne ihre Legende auffliegen zu lassen, überfielen sie laut Staatsanwaltschaft in regelmäßigen Abstand Geldtransporter und Supermärkte in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Dabei soll das Trio mehr als 2,7 Millionen Euro für das Leben im Untergrund erbeutet haben. Garweg und Staub sind noch auf der Flucht.

Und weil die rüstige Angeklagte einmal Mitglied der 1998 aufgelösten RAF war, scheint der Apparat um die Sicherheit (von wem eigentlich?) besorgt zu sein. Dabei ist die RAF schon fast genauso lange tot, wie sie vorher lebendig war. Die Bundesanwaltschaft ermittelt zwar weiter wegen terroristischer Alt-Taten wie der Sprengung des Gefängnis-Neubaus im hessischen Weiterstadt 1993 gegen sie, aber auch wegen einer möglichen Beteiligung der Mordanschläge gegen den Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen und den Treuhand-Boss Detlev Karsten Rohwedder 1991. Ob man Klette allerdings mit diesen Taten in Verbindung bringen kann, ist unbekannt.

Es bleiben also nur die Raubüberfälle – eine Art Beschaffungskriminalität. Diese etwas unglamourösen Straftaten, die die Ex-Stadtguerilleros mit Verbrechern wie dem kriminellen Zweig der Berliner Familie Remmo auf eine Stufe stellt, führt im Prozess dann zu folgenden Fragen: Wer hat am 6. Juni 2015 auf dem Real-Supermarkt in Stuhr bei Bremen eine Panzerfaust in der Hand gehalten, war das eine Attrappe oder nicht? Und war sie scharf geladen oder mit Übungsmunition bestückt?

Zwei Staatsanwältinnen, drei Verteidiger und drei Nebenklagevertreter sitzen heute im fensterlosen Saal, dem das Oberlandesgericht Celle selbst nach einer Renovierung 2010 bescheinigte, eine „angenehme Verhandlungsatmosphäre“ bereitzustellen. Wie die unangenehmen Säle aussehen, möchte man lieber nicht wissen.

Und weil die Juristen schon ins niedersächsische Celle gefahren sind, lassen sie die Gelegenheit nicht aus, nachzufragen: Wie genau denn die Uniformteile aussahen, die die Täter trugen? Sprachen sie einen Akzent oder Dialekt? Denn die Angeklagte spricht Hochdeutsch – eine Gelegenheit, Zweifel zu säen.

Ein 42-jähriger Soldat beobachtete das Geschehen und berichtet als Zeuge. Er habe auf dem Parkplatz vor dem Einkaufsmarkt vor knapp zehn Jahren mindestens zwei vermummte, bewaffnete Täter gesehen, sagt er. Damals habe er sie für Männer gehalten, wolle aber nicht ausschließen, dass es auch Frauen gewesen sein könnten. Zunächst habe er an eine Übung der Polizei gedacht, dann aber einen Überfall vermutet.

Eine Person war dem Zeugen zufolge mit einer Maschinenpistole bewaffnet, die andere mit einer Panzerfaust. Diese habe er unter anderem wegen ihrer Farbe als Spielzeugwaffe wahrgenommen, sagt der Zeuge. Der etwa 1,80 Meter große Träger habe sie wackelig getragen. „Es war ein unsicheres Handeln mit Waffen“, sagt der Soldat, der die Schüsse bei der Tat am 6. Juni 2015 nicht selbst beobachtet hatte.

Klettes Rechtsanwälte weisen die Vorwürfe zurück. Ihrer Mandantin droht im Fall einer Verurteilung eine jahrelange Haftstrafe. Welche Folgen die Taten hatten, schilderte am Dienstag der heute 63 Jahre alte Fahrer eines überfallenen Geldtransporters im Prozess. Er habe bei dem Überfall „Todesangst“ verspürt. „Ich habe wirklich direkt in ein Mündungsloch geguckt“, sagte der Mann als Zeuge.

„Ich sage das jetzt ganz nett zu Ihnen...“

Vielleicht ist es doch ganz gut, dass der Prozess so intensiv beschützt wurde. Im Gericht kommt es am Mittwoch zu einem kleinen Zwischenfall. Die Frau von der Klette-Soli-Demo setzt sich in die erste Reihe und legt ihre in Wollsocken steckenden Füße an das Geländer.

In der Pause fährt sie ein Wachmann, die Brust so breit wie ein Hackbrett, an: „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie die Füße herunternehmen sollten, und Sie haben mir einen Stinkefinger gezeigt. Ich sage das jetzt ganz nett zu Ihnen, machen Sie das nicht noch mal!“

Muffig wie eine 13-Jährige, die dabei erwischt wurde, wie sie in der Schule ein Kaugummi unter den Stuhl geklebt hat, zieht die Frau von dannen und sagt erst mal nichts mehr. Auch die Revolution muss mal Pause machen.

Chefreporter Per Hinrichs schreibt über Kriminalität, Justiz und weitere Gesellschaftsthemen.

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