Es ist eine kleine Verschiebung, die für einen Perspektivwechsel sorgt. In ihrem Buch „Psychoanalyse und Antisemitismus“, hervorgegangen aus den Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023, fragt Ilka Quindeau: Wozu Antisemitismus? Statt: Was ist Antisemitismus? Quindeau will deshalb ganz bewusst keine Definition des Antisemitismus geben, die wie eine Checkliste abgehakt werden kann.
Wenn der Antisemitismus sich im Laufe der Zeiten gewandelt hat und heute ganz anders auftritt als noch im 19. Jahrhundert, darf auch die Kritik des Antisemitismus in Sachen Beweglichkeit nicht nachstehen, sonst wird sie blind. „Wozu Antisemitismus?“, fragt die 1962 geborene Ilka Quindeau. Sie argumentiert als Soziologin und Psychologin sowie Psychoanalytikerin, dass Antisemitismus stabilisierend wirkt. Und zwar einerseits psychisch, für ein vor allem in Krisenzeiten von Konflikten zerrüttetes Selbst, und andererseits für aus den Fugen geratene Verhältnisse, in denen der Jude als „Sündenbock“ herhalten muss. Statt von „den Juden“ kann man auch vom „zionistischen Regime“ oder „globalen Mächten“ sprechen, das ist im Sinne der Stützfunktion einerlei. Formulierungen sind austauschbar, solange sich der gemeinte Sinn erhält.
Quindeau macht in ihrer Schrift „Psychoanalyse und Antisemitismus“ dreierlei: Sie zeigt, wie sich die Frankfurter Schule den Judenhass erklärte und wo selbst Adorno an seine Grenzen kam. Außerdem entwickelt sie ein eigenes ideologiekritisches Modell, in das auch Beispiele aus ihrer eigenen klinischen Praxis einfließen. Und zuletzt wirft sie einen Blick auf die Antisemitismusdebatten der jüngeren Vergangenheit, etwa bei der Documenta oder bei der Berlinale.
Dabei geht es Quindeau, und das ist das Erhellende, um ein „szenisches Verstehen“ der affektiven Dynamiken, die sich im Antisemitismus und bei seiner Kritik äußern. Mit detektivischer Neugier geht sie auf die Spur der psychischen Konflikte, die mit der „gesellschaftlichen Semantik“ des Antisemitismus bewältigt werden. Und dafür braucht es, so ihr bestechendes Argument, die Psychoanalyse.
Das Großartige an Quindeaus Buch ist, dass es auch für all diejenigen geeignet ist, die sich bisher weder viel mit der Theorie des Antisemitismus noch Psychoanalyse beschäftigt haben. Zugleich ist es auch für Kenner eine unerlässliche Lektüre, gerade weil Quindeau mit ein paar weitverbreiteten Missverständnissen aufräumt. Dazu gehört, dass seit der Frankfurter Schule über Antisemitismus meist nur in Verbindung zu Autoritarismus und Faschismus gesprochen wird. Auch mit Blick auf die lautstarken linken Freunde eines judenfreien Palästinas ist das für Quindeau inzwischen wenig erkenntnisfördernd. So wirft sie den „Studien zum autoritären Charakter“ oder auch den berühmten „Gruppenexperiment“ der Frankfurter Schule vor, sich in wenig aussagekräftigen Persönlichkeitsschablonen zu verlieren.
Ein Analysewerkzeug für die Forschung
Quindeau argumentiert grundsätzlich: Selbst Adorno glaubte noch an die rationalistische Illusion einer vollends aufgeklärten Persönlichkeit, die das Unbewusste als einen zu beseitigenden Rückstand des Irrationalen behandelt. Ein Irrweg, so Quindeau, die auch hier die Perspektive verschiebt: Man müsse das Unbewusste nicht abschaffen, sondern als Eigenständiges anerkennen, als Ichfremdes im Kern des Ichs. „Alteritätstheoretisch“ nennt sie das mit Alfred Lorenzer, Klaus Horn und Jean Laplanche, gerade in Abgrenzung zur intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse. Ihr geht es um Begehrenskonflikte, nicht um Identitätsprobleme – auch bei der Kritik des Antisemitismus, die nun nicht mehr auf den klassischen Kreis autoritärer Persönlichkeiten beschränkt bleibt.
Mit geschärftem Analysewerkzeug schaut sich Quindeau an, wie sich das Sprechen – und Schweigen – über den Antisemitismus nach 1945 in der Bundesrepublik verändert hat und was das für die sogenannte Erinnerungskultur bedeutet. Dabei zeigt sie, dass die floskelhafte Anerkennung deutscher Schuld inzwischen zum guten Ton eines neuen deutschen Selbstbewusstseins gehört, auch bei AfD-Politikern wie Alexander Gauland und Björn Höcke. „Diese Anerkennung kann einen ebenso instrumentellen Charakter annehmen wie die frühere Abwehr“, schreibt Quindeau, die auch den „Free Palestine from German Guilt“-Schreiern eine „strategische Verantwortungsabwehr“ attestiert. Dass es konkurrierende Semantiken des Antisemitischen gibt, ist eine ihrer Pointen.
Als gute Psychoanalytikerin hat Quindeau eine allerletzte Pointe, die einen auf die Selbstreflexion zurückwirft: Weil niemand per se dagegen immunisiert ist, auf die stabilisierende Semantik des Antisemitismus zurückzugreifen, müsse die Kritik des Antisemitismus mit einer Selbstkritik einhergehen, die allerdings in einer durch reflexhafte Vorwürfe geprägten Öffentlichkeit notorisch zu kurz kommt.
Ähnlich warnte auch Adorno in seinem kürzlich als Einzelausgabe wiederveröffentlichten Beitrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ vor Strafwut, Denunziantentum und Gesinnungsschnüffelei. Mit ihrem klugen und gut lesbaren Buch erinnert Quindeau in bester Tradition der Frankfurter Schule an die mühevolle Aufgabe der Aufklärung, die mit einer ernsthaften Kritik des Antisemitismus verbunden ist.
Ilka Quindeau: Psychoanalyse und Antisemitismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023. Suhrkamp, 284 Seiten, 32 Euro
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