Die wohl süßeste Ehrung, die der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2010, ehemalige Präsident des Internationalen PEN und Inhaber Dutzender Ehrendoktorhüte in den letzten Jahren seines ereignisreichen Lebens erhalten hatte, bestand … in neunzig Kilo Honig. Es war das Äquivalent zum damaligen Körpergewicht von Mario Vargas Llosa, der 2011 in seiner Zweitheimat Spanien zum Marqués de Vargas Llosa geadelt worden war und seit 2015 mit der ehemaligen Schönheitskönigin Isabel Preysler zusammenlebte, der Ex-Frau von Julio Iglesias und Mutter von Enrique Iglesias.
Als damals die Affäre ruchbar wurde – Vargas Llosa war zu jener Zeit noch verheiratet und hatte erst kurz zuvor Goldene Hochzeit gefeiert– gab es im peruanischen Fernsehen sogar Sondersendungen über den (je nach Lesart) berühmtesten oder auch missratensten Peruaner der Gegenwart. Reaktionäre Kleriker sahen sich in ihrer Abneigung gegen den säkularen Liberalen bestätigt, der bereits vor Jahrzehnten in Romanen wie „Lob der Stiefmutter“ und „Der Hauptmann und das Frauenbataillon“ das reflektierte Hohelied auf die Libertinage gesungen hatte und gleichzeitig als nahezu weltweit gefragter Zeitungskolumnist ein Befürworter des Rechts auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Heiraten war.
Aus Kreisen des peruanischen Militärs setzte es ebenfalls Häme, hatte der dortige Korpsgeist doch weder vergessen noch verwunden, wie bereits im Jahre 1963 der damals gerade einmal dreißigjährige Ex-Kadett in seinem Debütroman „Die Stadt und die Hunde“ das Körper- und Seelenzerstörende eines faschistoiden Millitärdrills beschrieben hatte; 1964 war das Buch sogar öffentlich in Lima verbrannt worden – ein Novum seit Zeiten der Inquisition.
Der nach wie vor einflussreiche Clan des rechtsautoritären Ex-Diktators Fujimori, gegen den Vargas Llosa im Jahr 1990 knapp die peruanischen Präsidentschaftswahlen verloren hatte, hob ebenfalls sogleich zu hetzen an: Dort nämlich, wo man an Marktwirtschaft ohne Menschenrechte glaubte, störten seit jeher die vieldiskutierten Einlassungen des erklärten Bewunderers von Karl Popper, Isaiah Berlin und Raymond Aron.
Währenddessen richteten Vertreter der lateinamerikanischen Linken quasi aus der Gegenrichtung Vorwürfe an den staatskritischen Romancier, dem wiederum sie den liberalen Antikommunismus nicht verziehen, nicht die Kritik an Castros Regime, nicht die tätige, keineswegs auf Petitionen beschränkte Solidarität mit kubanischen Schriftstellern und Dissidenten – und vor allem nicht Vargas Llosas bereits 1989 erschienenen Roman „Maytas Geschichte“, die spannende Nachzeichnung eines Revolutionär-Biotops, dessen Aktivismus mit moralisch grundierter Empörung über soziales Unrecht beginnt, sich aber schließlich verliert in Verdächtigungen, Partei-Säuberungen und einem denkbar sinnlosen Che-Guevara-Nihilismus. Und nun: der Señor Marqués de Vargas Llosa und seine honigsüße Geliebte wochenlang auf den ersten Seiten der Klatschzeitschrift „!Hola“, geradezu ostentativ „den arbeitenden Massen entfremdet“.
Nichts also war vergessen in jenem Peru, in dem in der vulkan-nahen Stadt Arequipa Mario Vargas Llosa 1936 zur Welt gekommen war. In weiten Teilen des westlichen Feuilletons reagierte man ob des Glamour-Faktors etwas modester, doch ebenfalls recht pikiert, sodass der Romancier – bis zu seinem Tod am Sonntag im Alter von 89 Jahren im Kreise seiner Familie in Lima – jenes aus nicht zu knapp Ressentiments gehäkelte Etikett des „Großschriftstellers“ nicht mehr losgeworden war.
Nicht, dass es den souveränen Charmeur sonderlich gestört hätte. Hatte man sich nicht einst schon in Lima das Maul darüber zerrissen, als er mit 19 Jahren seine Großtante Julia geheiratet hatte und nach der Scheidung dann für ein halbes Jahrhundert der Gatte von Patricia geworden war, seiner Cousine? Lebensweltliches Tohuwabohu, das der zeitlebens regelmäßig und diszipliniert Arbeitende 1977 in ein weiteres Meisterwerk transformiert hatte – in den Roman „Tante Julia und der Kunstschreiber“, worin er in stringenter Komik vom permanenten Grenzwechsel zwischen Talmi und echter Passion erzählte, von strenger literarischer Ambition und der Klischeeproduktion jenes beim Radio angestellten „Kunstschreibers“.
Was indessen aus einer Gesellschaft wird, die sich allein dem Spektakel und nivellierender Schenkelklopferei verschreibt, hatte Vargas Llosa 2013 in einer konzisen Warnschrift analysiert, die auf Deutsch unter dem Titel „Alles Boulevard“ erschien und zeigte, dass solches durchaus möglich war: Kulturkritik nicht aus dem Geist des verbittert Grämlichen, sondern geschrieben mit der Verve eines Kunst- und Lebensliebhabers, der Banalität weniger aus moralischen denn aus ästhetischen Gründen als Zumutung empfindet und gleichzeitig hellsichtig warnt, dass eine Selbstreduktion auf verblödendes Rambazamba nicht zuletzt mörderischen Polit-Clowns in die Hände spielt.
Denn während nun im Spätherbst seines Lebens die Yellow Press angesichts von „Super Mario & der Schönheitskönigin“ hyperventilierte (in Wirklichkeit war Isabel Preysler lediglich fünfzehn Jahre jünger als Vargas Llosa), hatte dieser bereits einen neuen Roman veröffentlicht – „Die Enthüllung“, eine Spannungsgeschichte über die Neunzigerjahre in Peru und das kriminelle Treiben der Fujimori-Diktatur. Wer ihn in jener Zeit in Madrid besuchte, traf dann in der Villa der „Mamá von Enriqe Iglesias“ nicht nur den weltberühmten „Großschriftsteller“ mit dem unverwechselbaren Charakterkopf, den blitzenden Augen und den verwegenen weißen Haarsträhnen, sondern vor allem einen denkbar unprätentiös-sympathischen Zeitgenossen, der den deutschen Besucher sogleich fragte: „Sag’, wie geht’s den Freunden aus der Berliner Zeit, was machen Hans Christoph Buch, Peter Schneider und Richard Herzinger?“
Anderthalb Jahrzehnte zuvor nämlich war er Stipendiat in Berlin gewesen und hatte dort am „Fest des Ziegenbocks“ gearbeitet, einem Buch in der Tradition des lateinamerikanischen Diktatoren-Romans, mit dem irren santo-dominikanischen Insel-Tyrannen Trujillo als Protagonisten.
In der Tat: Leben und Schreiben, Reisen und Sich-Erinnern, das eine die Ergänzung des anderen. Bereits zu dieser Zeit, und lange vor dem Nobelpreis, war Vargas Llosa so etwas wie eine lebende Legende: Vertreter jenes längst in die Literaturgeschichte eingegangenen „Boom“ der Sechzigerjahre, als er zusammen mit seinen Kollegen Gabriel García Márquez und Carlos Fuentes mit Aplomb die weltliterarische Bühne erklommen hatte, mit Romanen von der vermeintlichen Peripherie, geschrieben in einem Stil, dem das damals schnell gefundene Label des „Magischen Realismus“ freilich kaum gerecht wird. Wo nämlich im Bestseller „Hundert Jahre Einsamkeit“ García Márquez (dem Vargas Llosa späterhin einen berühmt-berüchtigten Faustschlag verpassen würde, wobei bis heute ungeklärt bleibt, ob es dabei um „Gabos“ dubiose Fidel-Castro-Affinität ging oder um eine sogenannte „Frauengeschichte“) durchaus archaische Mythen revitalisierte, ging es MVL eher um lustvolle Dechiffrierung.
„Gespräch in der Kathedrale“ und „Das grüne Haus“, seine frühen und sprachlich hochkomplexen Romane, in denen oft innerhalb eines einzigen Satzes Zeit- und Handlungsebenen changieren und Quechua-Sprache auf klassisches Spanisch trifft, ohne dass es je enigmatisch-kryptisch geworden wäre, spielen mit der atemberaubenden Vitalität lateinamerikanischer Wirklichkeiten, ohne sich dieser freilich ganz auszuliefern. Nicht zu vergessen, die Erotik (welche die hiesige Kritikerschar in Ermangelung eigenen Erlebens regelmäßig zum Verdikt geführt hatte, hier würden „Klischees und Stereotype“ bedient): Vom subversiv-tropenbarocken Körpergewimmel in der Amazonas-Stadt Iquitos im Roman „Der Hauptmann und sein Frauenbataillon“ zur sublimen, von Malerei und Literatur zusätzlich stimulierten Verführungskunst im „Lob der Stiefmutter“ und den fast noch gewagteren Nachfolgeromanen „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“ und „Das böse Mädchen“.
Und dann hatte irgendwann im Frühjahr 1998 jener hochgewachsene Mario Vargas Llosa in Anzug und Krawatte in einem dämmrigen, schlecht gelüfteten Keller-Tagungsraum in Berlin-Pankow gestanden, wo sich – zur nicht geringen Irritation der Berliner Freunde – nicht etwa die Elite der ostdeutschen Dissidenten, sondern die Banausenfraktion der einstigen DDR-Bürgerrechtler versammelt hatte. Was er von den Stasi-Akten und der PDS halte, begehrte man zu wissen, und eine bereits damals identitätspolitisch gepolte Längst-nicht-mehr-Lyrikerin blaffte den Gast an, er als weitgereister und inzwischen in London lebender Mann würde sich quasi naturgemäß nicht für die ehemalige DDR interessieren können.
„Super-Mario“ (der Name stammte von seinen Fans aus dem Präsidentschaftswahlkampf von 1990) aber ließ sich nicht darob verdrießen, erzählte stattdessen horizont-weitend von seiner Auseinandersetzung mit rechten Caudillos und den maoistischen Terror-Intellektuellen des „Leuchtenden Pfades“, rekapitulierte seine Polemik mit Günter Grass, der sich seinerzeit auch für Lateinamerika zuständig erklärt hatte, und verfertigte dann quasi im Sprechen den Gedanken einer Ethik-Ästhetik: Im Moment des Schreibens sei nämlich auch der Schriftsteller ein Diktator, der auf Gewaltenteilung und Kompromisse pfeife und den dionysischen Part unserer Existenz intensiv auslebe – wohlgemerkt auf dem Papier, da innerhalb der Gesellschaft das Irrationale schädlich sei und gebändigt gehöre durch Abkühlung, Diskurs und allgemeinverbindliche Regeln; voilá! Nach dem Ende der quecksilbrigen Lehrstunde wurde MVL dann allerdings noch beschieden, dass es kein Tagungsgeld für ein Taxi gäbe und sich der Gast deshalb oben an der Rezeption schon selbst darum kümmern müsse, wie er nun zurückkäme nach Charlottenburg.
„Bien, Nobelpreiskollege V.S. Naipaul, den ich in meiner Londoner Zeit mitunter traf und erfolglos versuchte, ihm ab und an ein Lächeln zu entlocken, wäre vermutlich völlig ausgerastet, haha.“ Ein helles, geradezu meckerndes Gelächter Jahre danach in jener Madrider Villa; Vargas Llosa in Jeans und sockenlosen Mokassins, auf einer Ledercouch unterhalb eines deckenhohen Gemäldes, das Señora Isabel mit roter Rose und in Robe zeigte. Wobei er vermutlich damals bei der improvisierten „Pankower Keller-Lecture“ das Dionysische etwas allzu rasant allein dem Werk zugerechnet hatte. Wäre es doch mit lediglich rationalem Kalkül nicht zu erklären gewesen, dass der Großstadtbewohner Vargas Llosa einst monatelang durch den unwirtlichen Amazonas-Dschungel gestreift und gepaddelt war, um die Welt der dortigen Indigenen kennenzulernen, dass er während des Wahlkampfes von 1990 in schadhaften Helikoptern auf den andinen Hügelplateaus halb vergessener Siedlungen gelandet war und auch später immer wieder zu riskanten Recherchen aufbrach in die damals von rechten Paramilitärs und maoistischen Guerillas terrorisierten Anden-Dörfer.
Die beiden Romane „Der Geschichtenerzähler“ und „Tod in den Anden“ sowie die literarischen Wahlkampf-Erinnerungen „Der Fisch im Wasser“ kokettierten dann freilich in keiner Zeile mit dem physischen Mut, wenn nicht gar Übermut ihres Autors (nicht auszudenken, welch narzisstisches Showing-off dagegen manch heutige Schriftsteller daraus gemacht hätten, stündlich postend auf ihren „Social-Media-Kanälen“).
Gleichzeitig, bei allem sensualistischen Erzähl-Elan: Diese Bücher waren ebenso zu lesen als konzise Reflexionen über das partiell Hemmende, ja Reaktionäre sogenannter „autochthoner Kulturen“ und über das quasi ewige Missverhältnis zwischen Geist und Macht. Dass sie dennoch nie zu Thesenliteratur wurden, verdankt sich nicht zuletzt dem, was Vargas Llosa bei Flaubert so bewunderte (dem er, ebenso wie Victor Hugo und Juan Carlos Onetti, eine umfangreiche Studie gewidmet hatte): „Wenn es im literarischen Werk eine Wahrheit gibt, so ist sie versteckt, im Gewebe der Elemente aufgelöst, und es ist dem Leser überlassen, sie zu entdecken, auf eigene Kosten und eigenes Risiko die ethischen, sozialen und philosophischen Folgerungen aus der Geschichte zu ziehen.“ Im Unterschied dazu Bert Brecht, mit dem sich Mario Vargas Llosa, unermüdlicher Leser und Verfasser unzähliger Essays über die Bücher der Anderen, gleichfalls auseinandergesetzt hatte: „Brecht schreibt ein Werk, das die Infantilität oder die Beschränktheit seines Publikums vorauszusetzen scheint: Alles muss ihm erklärt werden, um für das kleinste Missverständnis oder für eine unkorrekte Interpretation keinen Raum mehr zu lassen; diese bekehrende, paternalistische, schulmeisterliche Kunst ist im Grunde religiös.“
Nicht, dass Mario Vargas Llosa nicht manchmal selbst ins Predigen geraten wäre. Zu Recht angeödet von der Megafon-Rhetorik links-etatistischer Populisten, geriet mitunter seine bis ins hohe Alter hinein geschliffene Gegenrede ebenso plausibel wie arg erwartbar: gegen Korruption und für freie Märkte, gegen Gleichmacherei und für individuellen Aufstieg. Kein Wunder, dass ihn Teile der pseudo-liberalen lateinamerikanischen Oberschicht plötzlich als einen der ihren missverstanden und manch westliche Ohrensessel-Kommentatoren, die vermutlich noch keine einzige Romanzeile von ihm gelesen hatten, sich gern mit dem einen oder anderen MVL-Zitat schmückten in ihrer forsch-bigotten Litanei gegen „Sozialromantiker“ und dergleichen.
Dabei war, Ironie der Geschichte, vor allem das Spätwerk Vargas Llosas voller Sympathie für jene ethisch sensiblen Aufrührer, für die Solidarität eben nichts Belächelnswertes darstellte: Da war etwa, im Roman „Der Traum des Kelten“, die Geschichte des Iren Roger Casement, der einst die entsetzlichen Gräuel im Kongo des belgischen Monarchen Leopold II ebenso publik gemacht hatte wie das mörderische Treiben eines monopolkapitalistischen peruanisch-englischen Unternehmens, das im Amazonasgebiet für den Tod von über 30.000 zur Zwangsarbeit getriebenen Indigenen verantwortlich zeichnete.
Da war, im doppel-biografischen Roman „Das Paradies ist anderswo“, die Geschichte von Paul Gauguins peruanisch-französischer Großmutter, der Arbeiter- und Frauenrechtlerin Flora Tristan, deren lebenslangen Kampf gegen a-soziale Fabrikanten und deren heuchlerische Schönredner mit immenser Sympathie, wenn nicht gar Liebe geschildert war.
Und schließlich, fast schon gegen Ende seines Lebens: „Harte Jahre“, ein Politthriller über das Guatemala des Jahres 1954, als dort ein blutiger, von CIA und United Fruit Company initiierter Putsch den christdemokratischen Präsidenten Jacobo Àrbenz aus dem Amt gejagt hatte, nachdem dieser zum Fürsprecher für mittlere und kleine Unternehmer geworden war, für landlose Bauern und für so etwas „Sozialromantisches“ wie Tariflöhne und unabhängige Gewerkschaften. Vargas Llosas rechtslinke Feinde, die ihm bis zum Tod erhalten geblieben waren, hatten die Veröffentlichung dieses Romans dann ebenso wortlos-verdutzt aufgenommen wie jene plappernden Namens-Liberalen, die der vermeintlich längst abgehobene „Großschriftsteller“ hier im wahrsten Wortsinn auf einer Chiquita-Banane hatte ausrutschen lassen. Einen wie ihn wird es wohl nicht mehr geben. Adiós, Super-Mario.
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