Es gibt diesen alten Witz. „Papa, ich will nicht nach Amerika! – Sei still und schwimm weiter!“ Am Anfang von „Lyneham“, dem neuen Roman von Nils Westerboer, fühlt man sich daran erinnert. Ein Vater landet mit seinen drei Kindern, der elfjährigen Loy und ihre beiden Brüdern Henry, 13, und Chester, 15, auf einem fernen Planeten. Oder besser: Sie stürzen mit ihren mitreisenden Familien ab, und wo eigentlich eine maßgefertigte Welt auf die interstellaren Siedler warten sollten, sind tatsächlich: eine giftige, erstickende Atmosphäre, unheimliche Lebewesen, unfassbar gewaltige Gewitter.

„Ist das die fremde neue Welt, Papa?“, fragt Henry, der schon ahnt, dass es nach dem todesähnlichen Tiefschlaf in den Stasiskammern des Raumschiffs ein böses Erwachen gibt. Mit Fragen und Bedenken kann sich der Vater nicht aufhalten, die Sauerstoffmasken reichen nicht für alle. Also beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, während die Kinder „Ich packe meinen Koffer“ spielen.

Biobauernhof im All

Eine finstere Arrival-Story also: Schon das Ankommen klappt nicht, und statt einer mittels Terraforming einladenden Zweit-Erde warten dann nach einer lebensgefährlichen Wanderung durch unbekanntes Gelände wieder nur diese „Biome“, künstliche Habitate unter Kuppeln, die man doch auf der vom Klimawandel verwüsteten Erde verlassen hatte, um frei atmen und unbeschwert neu anfangen zu können. Doch auch im Weltall gibt es keine Stunde Null, sondern scheinbar nur die ewige Wiederkehr des Gleichen. Irgendetwas ist ganz schlimm schiefgelaufen, beim großen Projekt einer Erde 2.0.

Westerboer entwirft in seinem dritten Roman eine Kolonistengemeinschaft, die sich selbst als utopisch verstehen möchte, aber schon im ganz Kleinen die Übel der alten, untergegangenen Menschheit mit im Reisegepäck hat: allem voran dieses fatale Streben nach persönlichem Eigentum und der mit Reichtum verbundenen Macht. Auch in Lyneham 1 und 2, wie die beiden Wohnkomplexe auf dem Mond Perm im fernen Sonnensystem nach ihren Vorbildern benannt sind, gibt es eine erbitterte Rivalität zwischen einem industriellen Landwirtschaftsbetrieb und einem Bio-Bauern, und Erzfeindschaften zwischen den Kolonistenfamilien, deren Ursachen den Kindern nicht immer ersichtlich sind.

Schon gleich bei der Ankunft hat der Vater, um das Überleben der Seinen zu sichern, einer anderen Familie eine Sauerstoffmaske gestohlen: eine Art Erbsünde, die dem Leser verdeutlicht, dass wir es nicht mit Gutmenschen zu tun haben. Im Gegenteil, hinter der basisdemokratischen, von streng rationalen KIs unterstützten Selbstverwaltungs-Fassade der Kolonie steckt eine autokratische Regierungsform mit dem Wissenschaftler und Tech-Zaren Noah Rayser an der Spitze. Dessen Mega-Konzern hatte schon auf der Erde die ganze eskapistische Mission nicht zuletzt zum eigenen Vorteil geplant. Auch beim Weltuntergang, so die beißend kritische Botschaft Westerboers, gibt noch es Profiteure.

In der Haupthandlung des Romans führt Henry, das mittlere der drei Meadows-Kinder als Ich-Erzähler durch die neue, und mit jugendlicher Ausgelassenheit zu erobernde Welt, wo harmlose Spiele (Klettern und Rutschen mit der hier viel geringeren Gravitation!) leicht ins Bedrohliche umschlagen können. So als Loy sich einen Hasen von der Astro-Farm als Haustier wünscht und der von fiesen Nachbarskindern an die sehr unfrische Luft draußen gelassen wird.

Aber die Idee, eine solche Geschichte durch die Augen von Kindern zu sehen, sorgt für eine interessante Verfremdung im sonst so harten Genrestoff. Manchmal hat das etwas von „Fünf Freunde im Mondkrater“. Ihre Unschuld verlieren die Kinder schon in dem Moment, als sie erfahren, dass ihre Weltraumabenteuer-Reise im todesähnlichen Schlaf nicht fünf Wochen, sondern 12.000 Jahre gedauert hat.

Parallel wird die Geschichte ihre Mutter Mildred Meadows erzählt. Sie ist eine Koryphäe der Astrobiologie und war Teil der „Impulsmission“, die den neuen Lebensraum erkunden und gegebenenfalls für die spätere Ankunft der Siedler modifizieren sollte: Während Vater und Kinder noch Jahrtausende unterwegs sind, erforscht sie – gemeinsam mit dem charismatischen und machtgeilen Noah Rayser – die Ökosysteme und die Geologie des vulkanisch aktiven Himmelskörpers.

Es ist absolut faszinierend, wie Westerboer fiktive Lebensformen entwirft, die sich mit den gleichen Gesetzmäßigkeiten, aber unter anderen Selektionsbedingungen entwickelt haben. Alternative Evolution ist ein längst eigenes Subgenre der Science-Fiction geworden, etwa in der „Zeit“-Trilogie des Briten Adrian Tchaikovsky.

In „Lyneham“ denkt sich Westerboer unter anderem eine Genetik aus, die nicht – wie bei irdischer DNA – auf vier Basen aufbaut, sondern auf sechs und daher inkompatibel ist. Mit dem Blick einer Forscherin stößt der Leser auf die perfektionierten Tarnungsstrategien der Perm-Fauna, die sich vor einer unbekannten bedrohlichen Macht zu verbergen gelernt haben. Auf dem Grund der Ozeane leben die „Seismischen“, riesenhafte Meeresungeheuer, die als Nahrung beziehungsweise Energiequelle die vulkanischen Spalten benutzen. Es stellt sich heraus, dass sie zugleich damit die Tektonik unter Kontrolle halten, als wäre der Mond selbst ein lebendiges, kommunizierendes Wesen.

Angesichts solcher komplexen Symbiosen und Wechselwirkungen gerät die Mission um Meadows und Rayser schnell in weltraumethische Grundsatzdebatten. Wie stark darf man in das fremde Ökosystem eingreifen? Welche verheerenden Wirkungen hätte es, den Sauerstoffgehalt der Perm-Atmosphäre auf menschenverträgliche Niveau zu erhöhen? Denn der ursprüngliche Plan war, beim Neuanfang der Menschheit zumindest langfristig auf die verhassten Kuppeln zu verzichten. Wie lange aber soll die notwendige Übergangsphase dauern?

Die geniale Meadows will die menschliche Biologie genetisch so verändern, dass ein Leben (und Atmen) auf Perm ohne Zerstörung der dortigen Natur möglich ist. Der von Öko-Skrupeln freie Rayser will den anderen, rücksichtslosen Weg einschlagen, mit riesigen „Lungentürmen“ aus gezüchteter Biomasse, die Sauerstoff freisetzen. Seine wahren Motive dafür werden erst am Ende offenbar.

Vom Machbarkeitswahn besessene Technik-Utopisten sind sie beide. Als sie sich zerstreiten, ist der Keim der Katastrophe gelegt, zumal alles Leben auf Perm einer unheimlichen Macht unterliegt, der „Anomalie“, einer mysteriösen Kraft, die durch kleinste entropische Prozesse angelockt wird. Nur in geschlossenen Systemen wie den Biomen ist man vor ihr sicher. Wie unter solchen Ausgangsbedingungen eine neue Zivilisation aufbauen? Auch die späteren Siedler stehen vor diesem Entropie-Problem, selbst im Alltag: allzu energieintensiv zubereitete Speisen sind nur zu besonderen Zeiten im Angebot, sehr zum Leidwesen der Kinder, die gern Zucker in Sauerstoffschächte schütten und so Zuckerwatte produzieren.

Im Kern trägt „Lyneham“ den Konflikt aus zwischen einem Bild des Menschen als Naturwesen, das sein Eingebundensein in höhere, biologische oder gar kosmologische Zusammenhänge anerkennt, und einer Ideologie der Beherrschung und Unterwerfung der Natur, des steten Wachstums auf Kosten immer knapperer Ressourcen. Auf Perm treten diese Denkweisen zum Duell an.

Die Vision des Romans erstreckt sich auch rückwirkend auf die Menschheitsgeschichte. Die so bedrohlich wirkende „Anomalie“ stellt sich am Ende als eine Art galaktisches Sicherheitsventil gegen zivilisatorische Fehlentwicklungen heraus, als Überhitzungsschutz für höhere Wesen. Die Menschheit hat es leider irgendwann außer Kraft gesetzt, um sich ungebremst in eine evolutive Sackgasse namens Fortschritt zu begeben.

Mildred Meadows dient Westerboer als Verkörperung eines wissenschaftlichen Ideals, weil sie ihre Erkenntnisse und Fähigkeiten an einen hohen moralischen Standard bindet. Ihre Ethik erstreckt sich auch auf die außerirdischen Lebensformen. Im Grunde ist es ein Rousseauismus in hypertechnologischem Gewand. Eigentum ist in „Lyneham“ das Grundübel der Menschheit und der Grund für ihren Verfall. Ob das nun die Sauerstoffmaske des Nachbarn oder gleich die Weltherrschaft ist, die der größenwahnsinnige Tech-Unternehmer Rayser an sich reißen will (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind natürlich reiner Zufall), spielt dabei keine Rolle.

Dabei ist auch Mildred Meadows, und hier liegt die literarische Stärke des Buchs, eine zutiefst ambivalente Figur, die für ihre zweifellos wohlmeinenden Ziele äußerst fragwürdige Experimente durchführt. Auch der Vater verrät seine Ideale, wenn auch, um das Überleben seiner Kinder zu sichern. Die allgegenwärtigen KI-Roboter handeln scheinbar widersprüchlich, dabei führen sie doch nur Anweisungen verschieden hierarchisierter Menschen aus. Das ist wahrscheinlich eine tiefe Einsicht: Widersprüche ergeben sich dadurch, dass wir Diener mehrerer Herren und moralischer Imperative sind. Dass man sich über die Entscheidungen der Figuren ausführlich streiten kann, ist nicht die geringste Leistung eines Romans.

Bei vielen Science-Fiction-Romanen hapert es entweder an der Science oder an der Fiction. Ersteres will sagen, dass die hier entfalteten nahen oder fernen Zukunftswelten der inneren Stimmigkeit oder schlicht der wissenschaftlich-technischen Grundlage entbehren. Das gilt jetzt keineswegs nur für die sprichwörtlichen Fantasie-Antriebe oder physikalisch unmöglicher Waffen (Lichtschwerter!); auch für Biologie oder Soziologie außerirdischer Lebensformen. Bei wissenschaftlich fundierten (oder zumindest für den Laien wahrscheinlich klingenden) Romanen vermisst man oft komplexere Figurenzeichnung oder eine Dramaturgie, die Originalität mit Stringenz verbindet.

Für Westerboer gelten alle diese Einwände nicht. Mit „Lyneham“ entwirft er eine beeindruckende, in den biologischen und geologischen Details faszinierende Welt und erzählt zugleich eine spannende Geschichte mit glaubwürdig gebrochenen Figuren. Die Konflikte der Gegenwart erscheinen im Spiegel einer gar nicht so fernen Zukunft: So ist der Roman ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf die Grundlagen menschlichen Lebens, ein Ruf zur Umkehr auf dem abschüssigen Weg unserer Zivilisation Richtung Selbstzerstörung. Westerboer lässt den Status als Geheimtipp damit hinter sich. Er muss fortan zur ersten Reihe nicht nur der deutschen Science-Fiction-Autoren gerechnet werden.

Nils Westerboer: „Lyneham“. Hobbit Presse/Klett-Cotta, 496 Seiten, 18 Euro.

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