Es ist ein ruhiger Morgen in der Stillen Straße. Der Frühling hat offensichtlich sein blaues Band gefunden und fängt ganz zart an, es zu werfen. Eine Villa im herrlichsten ostdeutschen Grauputz. Angenehm verwohnt. Man geht durch einen durchschnittlichen Vorgarten, eine Treppe hinauf. Hier war mal der Teufel los, kann man sich gar nicht vorstellen. Liest man aber am Eingang.
Gemeint sind allerdings nicht die DDR-Bonzen, die hier gewohnt haben. Das halbwegs hochherrschaftliche Haus, an dessen Pforte Jasmin Tabatabai uns begrüßt, gehörte, nachdem die Klavierdynastie Schiller 1946 von den Sowjets enteignet worden war, dem Genossen Mielke, Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit.
Er war nicht allein hier. Die Granden des Arbeiter- und Bauernstaates wohnten überall am Majakowski-Ring (bis sie nach Wandlitz umzogen jedenfalls). Ohne Passagierschein kam keiner rein. Honecker hauste schräg gegenüber und Otto Grotewohl etwas weiter. Seit 2004 lebt Tabatabai in der Nähe, mit dem Schauspieler Andreas Pietschmann (den man von der Netflix-Serie „Dark“ kennen kann), den Kindern und inzwischen auch ihrer 87-jährigen Mutter.
Später war die Stille Straße eine „Protokollstrecke“, führte zum Schloss Niederschönhausen, das man durch die im Moment schütter begrünten Bäume sieht. Das war das Gästehaus der DDR-Regierung. 1979 sollte der Schah dort logieren mit Farah Diba. Dazu kam es nicht mehr, weil sie vorher zum Teufel geschickt wurden. Ein bisschen Genugtuung leuchtet durch die Stimme von Jasmin Tabatabai, wenn sie das erzählt.
Als die Molotowcocktails flogen
Sie kam in Teheran just in jener Woche zur Welt, als der Schah 1968 Berlin besuchte. Und hier ist sie, seit Ende 1978, weil in Teheran die Lage eskalierte, ausländische Einrichtungen wie die deutsche Schule, auf die sie ging, nicht mehr sicher waren, Molotowcocktails flogen und ihr iranischer Vater seine deutsche Frau und die vier Kinder nach Deutschland vorschickte.
Aber zurück zum Teufel, der hier in der Stillen Straße los war. Das war 2012. Und Eveline Lämmer, die die Geschicke dieser Begegnungsstätte für Jung und Alt leitet und uns durchs Haus führt, war dabei.
Der Bezirk hatte mit den Stimmen der Grünen, der SPD und der Piraten beschlossen, das Haus dichtzumachen – weil es angeblich baufällig war und Geld gebraucht wurde. Im März gab es Demonstrationen. Die Stille Straße kam ins Fernsehen. Im Juni beschlossen die Senioren, ihr Haus zu besetzen. „Wir bleiben alle“ stand auf den Plakaten. Dann war besagter Teufel los.
Die Geschichte von den ältesten Hausbesetzern der Welt – vier von denen, die vor 13 Jahren dabei waren, leben noch – sorgte für ordentlich Aufregung. Aus 180 Ländern meldeten sich Journalisten. Die Stille Straße kam in die „Washington Post“. Flyer wurden verteilt. Menschen kamen vorbei und brachten Gemüse und Backwaren. Ein Klempner, der gelesen hatte, dass der Bezirk dem Haus das warme Wasser abgestellt hatte, half. Jasmin Tabatabai las im Juli aus „Rosenjahre“, der Liebesgeschichte ihrer Eltern, die sich auf dem Oktoberfest in München Mitte der 50er kennengelernt hatten.
Seitdem ist sie immer wieder hier. Seitdem ist sie immer wieder hier. Wäre sie auch beim Frauentag gewesen. Aber da war sie in Hamburg. Bei ihrer 92-jährigen Persischlehrerin. Mit einem Haufen cooler iranischer Frauen. Kochen, essen, ratschen. Das ist auch wichtig.
Beim Sommerfest der Stillen Straße 10, wo sie hätte singen sollen mit ihrer Jazz-Combo, kann sie auch nicht. Da ist Tabatabai, die erste Schauspielerin mit migrantischen Wurzeln, die auch Lisas und Hannahs spielen durfte, wochenlang Germanin in Worms bei den Nibelungen-Festspielen. Sie war im Schatten des Doms in der Pfalz, als Dieter Wedel Intendant war, schon mal Kriemhild. Im neuen Stück von Roland Schimmelpfennig hat sie eine Doppelrolle. Darf aber noch nichts verraten.
Es gibt lecker Kaffee (die Stille Straße hat gerade einen neuen Automaten geschenkt bekommen) und Kuchen. Bilder der Malgruppen hängen an den Wänden, ein Klavier steht da. Nebenan trifft sich die Englisch-Konversationsgruppe. Die ersten Tischtennisspieler gehen die Treppe runter in den Keller.
Vom Wert einer Gesellschaft
Im ersten Stock, wo die Dielen knarren, es herrliche Einbauschränke gibt und selbst handwerklich unbegabte Menschen der Drang überfällt, die Stille Straße zum eigenen Projekt zu machen, geht kaum etwas. Weil der Bezirk – angeblich aus Brandschutzgründen – nicht zulässt, dass sich mehr als acht Menschen hier treffen.
Man könnte eine Schikane dahinter vermuten. Wie hinter der Taktik des Bezirks, den Nutzungsvertrag des Hauses lange Zeit immer nur für ein Jahr zu verlängern, in der vielleicht zynischen Hoffnung auf das zunehmende Alter der verbliebenen Besetzer. Die Stadt kostet die Begegnungsstätte keinen Cent. 140 Mitglieder hat der Förderverein. Selbst Mitglieder über neunzig, sagt Eveline Lämmer, haben sich noch eine Mail-Adresse zugelegt.
Jasmin Tabatabai sagt, der Wert und Zustand einer Gesellschaft zeige sich darin, wie sie mit ihren älteren Mitgliedern umgeht. Sie mag die Leute in der Stillen Straße. Sie mag die Bockigkeit, die Beharrlichkeit, den Stolz. Vor allem der Frauen. Weil sie auch so ist.
Wir machen einen Spaziergang. Die Stille Straße hinunter. In den Schlosspark, in dem sie wahrscheinlich jeden knospenden Krokus duzen könnte. Den sie liebt. Mit seinen Platanen. Den Statuen.
Früher, als sie hierherkam und die Kinderwagen über die Wege schob, gab es hier zwar mehr Fluglärm (als Tegel noch Hauptstadtflughafen war, für dessen Stilllegung sich Jasmin Tabatabai eingesetzt hat) und die Luft war schlechter. Aber es war romantischer. Da gab es – wo jetzt typische moderne Berliner Eigentumswohnwürfel stehen – noch eine richtige Wildnis.
Sie sei keine Aktivistin, sagt sie. Sie ist in keiner Partei. Still sein kann sie aber auch nicht, wenn sie irgendwo um sich herum Ungerechtigkeit wittert. Wir kommen an einer Büste des Menschenrechtlers Carl von Ossietzky vorbei. Dahinter im Wohngebiet sollten sämtliche Bäume abgeholzt werden, unter deren Wipfeln Spielplätze sind.
Baumpaten in Pankow
Für noch mehr Häuser sollte Platz geschaffen werden. Dagegen gab‘s Proteste. Man konnte Baumpatenschaften übernehmen. Tabatabai und Pietschmann wurden Paten. Das Baumfällen wurde begründet damit, dass man Platz für Flüchtlingscontainer schaffen wolle. Die vermeintlich linksgrünen Baumpaten sollten in eine moralische Zwickmühle getrieben werden. Im Moment ruht alles. Die Bäume stehen noch.
Sie hat sich den Mund nie verbieten lassen, kann ausgesprochen bockig sein. Persische Frauen sind so, sagt sie, daran hätten auch 1400 Jahre patriarchale Religion nichts geändert: „Ich bin in tiefer Demut gegenüber dem, was die Zivilgesellschaft, die Menschen, die Frauen sich im Iran trauen.“
Auf der Schauspielschule, auf die sie immer schon wollte, bereits in Teheran, wo sie amerikanische Fernsehserien nachspielte und eigene Stücke schrieb, hieß es, mit dem Aussehen und diesem Namen werde das nichts. Keine zwei Jahrzehnte später wurde sie zu Deutschlands beliebtester Schauspielerin gewählt.
Sie hatte ein eigenes Schallplattenlabel und war nicht nur die erste Kommissarin im deutschen Fernsehen mit iranischer Familiengeschichte, sondern am Ende – nach 13 Staffeln der ZDF-Serie „Letzte Spur Berlin“ – auch die migrantische Ermittlerin mit der längsten Amtszeit. Wozu allerdings immer noch nicht viel gehört.
Wir sitzen beim Japaner. Es gibt Udon mit Shrimps. Ihre Kinder haben sich für heute Abend Japanisch gewünscht. Sie kochen abwechselnd und gern in großer Runde. Ein paar Zutaten muss sie später noch besorgen.
Mina Amiri, die Kommissarin in „Letzte Spur Berlin“, war ein Türöffner für alle Schauspielerinnen mit Migrationshintergrund. Aber auch ein steter Kampf, sagt sie. Mina auf Augenhöhe zu halten mit ihrem (von Hans-Werner Meyer gespielten) Kollegen Radek. Sie so hart zu halten, wie sie ursprünglich geplant war. Sämtliche Klischees zu verhindern.
Sie hat sich – ursprünglich sollte Mina Türkin sein – ihre Geschichte ins Drehbuch schreiben lassen, ihre Schwangerschaft, ihren Mutterschutz. Sie hatte (mit Meyer zusammen) bald einen Ruf wie Donnerhall. Auch im Vorstand der Deutschen Filmakademie. Und zog nicht zurück. Obwohl sie wusste: „Wenn du den Mund aufmachst, wirst du weniger besetzt.“
„Letzte Spur Berlin“ (Quote bis zum Schluss: gut vier Millionen) wurde gerade abgesetzt. Jetzt hätte sie Zeit für ein Sabbatical, würde gern mehr als den halben Keller aufräumen, den sie bisher geschafft hat. Aber sie dreht weiter (die zweite Staffel der ARD-Rapper-Serie „Asbest“ müsste bald angekündigt werden).
Hat gerade mit Audible eine fiktionale True-Crime-Podcast-Serie aufgenommen. „Die Toten von Norden“, ein Impro-Serienmörder-Theater vor dem Mikro, aufgenommen oben an der Nordseeküste. Hat Spaß gemacht, war aber höllisch aufwendig, was man nicht hört. Dann kommt bald Worms.
Der Preis der Familie
Immerhin hat sie ihr erstes Hobby neu für sich entdeckt. Analoge Fotografie. So mit Filmen und mit Dunkelkammer. Ein Raum im Keller ist das Fotolabor. Mehr geht gerade nicht. Sie könnte natürlich wieder was schreiben. Ein Buch. Songs. Dazu bräuchte sie Einsamkeit. Hat sie nicht. Will sie letztlich auch nicht.
„Du bezahlst für alles einen Preis. Wenn du eine schöne, große Familie hast, die du über alles liebst, hast du, auch wenn du die Arbeit gerecht verteilst, eben viel zu tun und bist vor allem selten allein. Irgendwer kommt immer irgendwie rein. Abschotten kannst du dich nicht.“
Es gibt eh zu viel zu tun: den emanzipatorischen Backlash verhindern, dafür zu kämpfen, dass es nicht nur überhaupt mehr Frauenfiguren in Film und Fernsehen gibt, die nicht nur über Männer definiert werden, sondern gerade auch Rollen für Frauen in ihrem Alter. Dass in Deutschland endlich für Leinwand und Flachbildschirm kontinuierlich eine Qualität produziert wird, die dem Budget, den Ressourcen an Autoren, Regisseuren und Schauspielern entspricht.
Geschichten zu erzählen, sagt sie, gibt es genug. Jetzt muss Jasmin Tabatabai aber erst noch zum Asia-Laden. Am Majakowski-Ring fährt Andreas Pietschmann auf dem Lastenrad vorbei. Es wird still in der Stillen Straße.
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