Ein Marxist wollte Papst Franziskus nicht sein. Aber das warfen ihm nicht nur die amerikanischen Rechten immer wieder vor. Rush Limbaugh etwa, ein 2021 verstorbener in den Vereinigten Staaten populärer Radiomoderator, nannte Franziskus‘ Ansichten über die Wirtschaft einmal „reinen Marxismus“. Auf solche Rede reagierte Franziskus nicht - oder abwehrend: Der Marxismus sei eine verkehrte Ideologie, aber er sei in seinem Leben vielen guten Menschen und Gesprächspartnern begegnet, die Marxisten gewesen sein, sagte er einmal.
Er vermied es, andere in Kästchen zu stecken. Aber politisch zuspitzen konnte er: Der Papst formulierte immer wieder Sätze wie: „Diese Wirtschaft tötet“. Auch deshalb war er immer wieder eine Projektionsfläche für politische Vorurteile. Diese enthielten jedoch nicht nur unpassender Kategorien, sondern bedurften gelegentlich auch der Gossensprache. Der libertäre argentinische Präsident Javier Milei nannte Franziskus einen „Dummkopf“ und „Hurensohn“ (und dennoch kündige er jetzt seine Teilnahme an der Begräbnisfeier kommenden Samstag im Petersdom an).
Der Papst, rhetorisch vornehmer und im Urteil über einzelne Menschen zurückhaltend, betonte immer wieder, er verstehe sich nicht als Spezialist für Wirtschaftsfragen. Aber er stehe in der Tradition der katholischen Soziallehre. Das Versprechen, dass die Armen profitieren würden, wenn der Reichtum der Welt durch Handel, technischen Fortschritt und Marktwirtschaft steigen werde, sei schlicht nicht eingetreten.
Diese Frage ist sehr streitbar. Viele Statistiken – etwa über die vermeintlich aufgehende „Schere zwischen Arm und Reich“ widersprechen ihm auch. Zugleich ist das Versprechen, wie die wieder steigende Zahl der hunderten Millionen Unterernährten zeigt, nicht wahr geworden, auch in seiner südamerikanischen Heimat – ob das nun an „zu wenig“ oder „zu viel“ Kapitalismus liegt.
Der Blick auf solche Fragen übersieht vor allem den Impuls der päpstlichen Schriften. Der ist ein ökologischer. Und Franziskus Ökologie ist sein ganz besonderes Vermächtnis. Von dort aus erschließt sich die Kritik am „Wirtschaftsmodell“, an der „Kultur des Wegwerfens“, der „Kultur der Verschwendung“ und der – wie er oft sagte – „globalisierten Gleichgültigkeit“.
Tausendfach zitierte Enzyklika
Unter Ökologie verstand Franziskus eine Integration der Menschen in die wirtschaftlichen Produktions- und Handelspraktiken. Und zwar nicht nur die materielle Teilhabe, sondern auch eine emotionale: eine auch kulturelle, auch sinnliche und sinnhaft wahrgenommene. Als Gefahr sah er die Unterordnung des Menschen, seiner Handlungen und Wünsche und Zukunftsimaginationen, unter so etwas wie ein (unausgesprochenes, aber allgegenwärtiges) Diktat technischer oder ökonomischer Systemzwänge. Die Umweltkrisen deutet er als Symptom.
Schon im Jahr 2015, im zweiten Jahr nach dem Beginn seines Pontifikats, veröffentlichte er seine Enzyklika „Laudato Si“. Sie wurde von Theologen als zentral für sein Pontifikat eingeordnet. Sie ist heute tausende Male wissenschaftlich zitiert, diskutiert. Der Theologe und Sozialethiker Markus Vogt von der LMU München stufte sie als „Meilenstein in der Entwicklung der katholischen Soziallehre“ ein.
Der in „Laudato Si“ entfaltete Blick auf die Umweltkrise ist wesentlich verschieden von dem der späteren Klimaproteste. Auch unterscheidet er sich von den früheren „alternativen“ themenorientierten Protestkulturen etwa gegen die Atomkraft oder Gentechnik. Im Zentrum steht das Unglück des Menschen als nach Sinn, Erfüllung, Schönheit und Würde bedürftiger Person. Und dieser Mensch erlebt eben auch im Kapitalismus „systemimmanente“ Stutzungen. Das lässt sich in der Bürokratie durch allerhand staatliche Schutzbemühungen, in Normierungskommissionen oder in einseitig technisch-ökonomisch geprägten Berufsfeldern wie dem Management erfahren.
„Es wird uns nicht nützen, die Symptome zu beschreiben, wenn wir nicht die menschliche Wurzel der ökologischen Krise erkennen“, heißt es in der Enzyklika: „Es gibt ein Verständnis des menschlichen Lebens und Handelns, das fehlgeleitet ist und der Wirklichkeit widerspricht bis zu dem Punkt, ihr zu schaden.“
Überwindung materieller Bedingtheiten
Er sprach weniger von „systemischen“ Aspekten Wirtschaft (für die neue Trump-Regierung in Amerika und die von ihr noch finanzierten Universitäten ist das derzeit geradezu ein verbotenes Wort). Der Papst sprach eher aber von der „Macht“ der Technologie, das heißt: technischer Rationalität.
Und dass er diese nicht einfach – wie ein Aktivist – eifernd kritisiert, dass er nicht dagegen polemisiert, dass er nicht romantisch irgendein „Früher“ verklärt, und er auch nicht einen Kulturkampf nach Art mancher Grünen-Politiker auf die mediale Bühne bringt, dafür ist es ein Zitat aus der ökologischen Enzyklika wert, ausführlich erinnert zu werden. Es lautet:
„Bei dieser Überlegung schlage ich vor, dass wir uns auf das vorherrschende technokratische Paradigma konzentrieren und auf die Stellung des Menschen und seines Handelns in der Welt. Die Menschheit ist in eine neue Ära eingetreten, in der uns die Macht der Technologie vor einen Scheideweg stellt. Wir sind die Erben von zwei Jahrhunderten enormer Veränderungswellen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, der Telegraf, die Elektrizität, das Automobil, das Flugzeug, die chemischen Industrien, die moderne Medizin, die Informatik und jüngst die digitale Revolution, die Robotertechnik, die Biotechnologien und die Nanotechnologien. Es ist recht, sich über diese Fortschritte zu freuen und angesichts der umfangreichen Möglichkeiten, die uns diese stetigen Neuerungen eröffnen, in Begeisterung zu geraten, da ,Wissenschaft und Technologie ein großartiges Produkt gottgeschenkter Kreativität` sind. Die Umgestaltung der Natur zu Nützlichkeitszwecken ist für die Menschheit seit ihren Anfängen charakteristisch, und daher ist die Technik ,Ausdruck der Spannung des menschlichen Geistes auf die schrittweise Überwindung gewisser materieller Bedingtheiten hin‘.“
Und das schöne Zitat geht noch etwas weiter:
„Die Technologie hat unzähligen Übeln, die dem Menschen schadeten und ihn einschränkten, Abhilfe geschaffen. Wir können den technischen Fortschritt nur schätzen und dafür danken, vor allem in der Medizin, in der Ingenieurwissenschaft und im Kommunikationswesen. Und wie sollte man nicht die Bemühungen vieler Wissenschaftler und Techniker anerkennen, die Alternativen für eine nachhaltige Entwicklung beigesteuert haben? Diese Situation führt uns in eine beständige Schizophrenie, die von der Verherrlichung der Technokratie, die den anderen Lebewesen keinen Eigenwert zuerkennt, bis zur Reaktion geht, dem Menschen jeglichen besonderen Wert abzusprechen. Man kann aber nicht von der Menschheit absehen. Es wird keine neue Beziehung zur Natur geben ohne einen neuen Menschen. Es gibt keine Ökologie ohne eine angemessene Anthropologie.“
Anthropologie ist hier das Zentrale:
In diesen differenzierten, beobachtenden, abwägenden Sätzen lässt sich der „andere Geist“ der kirchlichen Ökologie spüren, wie sie Franziskus hinterlassen hat. Die Anthropologie ist hier das Zentrale: der Mensch als Geschöpf Gottes – die Schöpfung erneuert sich in jeder Sekunde des Lebens wieder –, zur Freude und zur aktiven Gestaltung einer besseren, reicheren, schöneren Welt befähigt.
Das Empfinden von Schönheit stellt Franziskus geradezu in den Mittelpunkt. Das „Staunen“ über Naturschönheit, die Wahrung schöner Landschaft, aber auch die Wahrung der eigenen, persönlichen Schönheit in würdevoller Existenz, diese Aspekte sind das Zentrum seiner theologischen Ökologie. Darin zitiert er den Mönch Franziskus, auch seinen mittelalterlichen Namenspaten: „Von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen.“ Ausgeräumte Agrarlandschaften, dimensionslose Windparks, triste Neubausiedlungen sind in dieser Sichtweise geradezu ein Hindernis der Gottesbezogenheit.
Die industrielle Moderne hat die Menschheit satt gemacht, also auch die materiellen Bedingungen für Glück und Freude in historisch nicht gekanntem Maß geschaffen. Jedoch ermöglichte sie zugleich auch eine neue Dimension des Unglücks. Das zeigte sich nicht nur in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, sondern auf andere Art auch „heute bei uns“, und auf wiederum andere Art auch in Lateinamerika. Hunderte Millionen bleiben abgehängt vom Wohlstand weniger. Aber auch die, die den Wohlstand haben und mehren, können entwürdigt sein, zum Beispiel vom Ausgesetztsein von Bewertungen beruflicher Leistungen nach rein technisch-ökonomischen Maßstäben.
Der Vorwurf des „Marxismus“ basiert auf sehr groben Verkürzungen dieser Zusammenhänge. Karl Marx begann sich tatsächlich – in höherem Alter, etwa fünfzehn Jahre nach Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ – für die Ökologie zu interessieren. Diese hieß damals aber noch lange nicht so. Er befasste sich mit der Lektüre der Schriften des deutschen Agrarchemikers Justus von Liebig. Dieser hatte in seinem Forscherleben einen ähnlichen Wandel durchlebt wie Marx selbst: Anfänglicher Fortschrittsoptimismus (der in seiner Annahme nahezu endlos steigerbarer Ernten durch die von Liebig entdeckte bessere Düngung lag) wich Skepsis bezüglich der Beiträge technischer Fortschritte zu einem besseren Leben. Auch bei Liebig selbst wandelt sich das Paradigma unendlicher Erntemöglichkeiten durch technisch erweiterte Spielräume der Pflanzenernährung zur Sorge vor „Raubbau“, einer Auszehrung der Böden.
Lenin beklagte das Verschwinden von Singvögeln
Marx las das aufmerksam. Er übernahm von Liebig den Begriff des (gestörten) „Stoffwechsels“ zwischen Mensch und Natur durch Urbanisierung und die moderne, maschinisierte Landwirtschaft. Aber am Anfang der Marx’schen politischen Ökonomie stehen ebenfalls Fragen des Würdeverlustes, wenn man es in seiner Sprache sagen will: „Entfremdung“, eine „Verdinglichung“ der Arbeit, des Beziehungsverlustes des Arbeiters zu seiner Tätigkeit. Erst im Spätwerk befasst sich Marx mit ökologischen Grenzen, wie der Soziologie Kohei Saito herausfand. Gewiss verbindet Marx die eine Deutung mit der anderen Einsicht.
Der amerikanische Soziologe John Bellamy Foster untersuchte schon Ende der 1990er-Jahre diese Ideengeschichte. Er sieht in der Metapher des „gestörten Stoffwechsels“ von Mensch und Natur eine Gründungsidee der modernen Umweltsoziologie. Foster stellt heraus, wie sich dieser von Liebig und Marx artikulierte Blick später unter kommunistisch geprägten Denkern im 20. Jahrhundert fortsetzt und auf ökologische Folgen weitet: Wladimir Iljitsch Lenin oder Rosa Luxemburg sprachen beispielsweise in Briefen vom Verschwinden von Singvögeln, Degradierung der Böden und dem drohenden Zusammenbruch des Nährstoffzyklus in der kapitalistischen Landwirtschaft.
Und russische „Proto-Ökologen“ erfanden Begriffe wie den der Noosphäre. Das darin enthaltene griechische Wort Noos bedeutet „Geist“. Die Idee: Der menschliche Erfindergeist ändert die Stoffkreisläufe und greift ins Erdgeschehen wesentlich ein. Heute spricht „man“ vom Anthropozän – ein Begriff, die naturwissenschaftliche Geologie jedoch ablehnt.
Obwohl es ideengeschichtliche Parallelen von Ökologie und Marxismus gibt, ist „Laudato Si“ keine marxistische Schrift. Dieser Vorwurf ist absurd. Franziskus‘ Bezugsrahmen ist davon sehr verschieden. Der Marxismus zeichnet sich durch die Betonung von Klassen- und Machtkämpfen aus, die Ursache vieler Übel werden, und deren „Beendigung“ als Bedingung des Eintretens der Utopie des Sozialismus gedacht wird. Der Marxismus ist auch explizit kirchen- und religionsfeindlich. Dieser Weg war naheliegenderweise noch keinem Papst sympathisch, wie etwa auch der Wirtschaftswissenschaftlicher Hans Frambach von der Uni Wuppertal in seinem Buch „Der dritte Weg der Päpste“ mit Blick auf die kirchliche Sozialethik herausgearbeitet hat.
In der Tradition jesuitischer Technikdiskurse
Das Unbehagen an der Dominanz technisch-ökonomischer „Systemlogiken“ in weiten Teilen des Lebens war das ökologische Leitmotiv des Papstes. Anders gesagt: die Schadfolgen des Habitus der stolzen Macher für viele andere. Umweltsünden erscheinen aus dieser Perspektive nicht als böse Absicht, sondern als „tragische Auswirkungen“ der technisch erweiterten Möglichkeiten Umstände.
Franziskus erfindet diese Deutung nicht. Benedikt, sein theologisch konservativerer Vorgänger, sprach im Deutschen Bundestag 2011 von der „Ökologie des Menschen“ (auch wenn die Ökologie und Wirtschaftskritik nicht seine Kernthemen waren). Auch Johannes Paul II. sprach von „ökologischer Umkehr“ und einer „Humanökologie“; aber auch er tat das nicht so pointiert und systematisch. Franziskus‘ Ökologie steht in der Tradition jesuitischer Technikdiskurse, die ab den 1950er-Jahren geführt wurden.
Die Gedanken des französischen Philosophen und Jesuiten Teilhard de Chardin lenken den Blick auf die gewachsene menschliche Macht durch Technik als tragisch, als ambivalent. Und auch der damalige römisch-katholische Priester und öffentliche Intellektuelle Ivan Illich schrieb seine Bücher in den 1970er-Jahren und (differenzierter, aber dann auch nur von wenigen gelesen) in den Jahrzehnten danach über die Folgen der „Technokratie“. Darin sah er einer Art Herrschaft technischer Logiken, die Kreativität, Spontaneität und Freiheit der beruflichen Möglichkeiten der Einzelnen zurückdrängen–, und die dann „notwendigerweise“ herrschen werde, wenn Energie und Materialien im Überfluss da seien, wie er schrieb.
Andere – nicht „priesterliche“ – Stimmen katholischer Intellektueller fassten ähnliche Gedanken. Hans Blumenberg war die große intellektuelle katholische Stimme in Deutschland zu diesen Fragen und wird bis heute international rezipiert. In Amerika schrieb der katholische Biobauer Wendell Berry für ein breiteres Publikum Essays über den Verlust an Würde durch den Verlust der ländlichen, agrarisch geprägten Sozialgemeinschaften durch die agrartechnische Modernisierung. „The Unsettling of America“ hieß sein Bestseller – die Ignoranz technischer Experten nehme den dörflichen Gemeinschaften ihre Würde, ihre Unabhängigkeit, im Irrglauben, es gäbe endliche Ressourcen, und auf Kosten ökologischer Vielfalt.
Auch Wendell Berry diskutiert immer den Dreiklang aus sinnlicher, ästhetischer und identifikatorischer „Verarmung“ – und von hier aus, und in diesem Zusammenhang, die Umweltkrise. Der politische Diskurs der deutschen Grünen war demgegenüber stärker von Ausbeutungs- und Zerstörungsmetaphern der Natur durch Unternehmen oder das Agrarsystem geprägt – sie stellten rhetorisch das Gegeneinander von „Kapital-“ und „Bürgerinteressen“ gegeneinander. Kategorien der Schönheit oder Ästhetik spielen hier keine große Rolle.
Uralte Utopie des Mönchs Franziskus
Für Franziskus sind sie deshalb zentral, weil sie auf den Gott verweisen, der „die Liebe ist“. Der Sinn der Umwelt ist, dass Menschen über sie staunen können, sich erfreuen, sie sorgsam verändern. Nur aus solcher Verbundenheit entsteht ein tragfähiges Motiv für „Umweltschutz“ (ein schreckliches Wort aus dem Verwaltungsjargon).
Zur sinnlichen Verbundenheit von Mensch und Umwelt heißt es demgegenüber in der Enzyklika „Laudato Si“:
„Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das Wunder nähern, wenn wir in unserer Beziehung zur Welt nicht mehr die Sprache der Brüderlichkeit und der Schönheit sprechen, wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein, der unfähig ist, seinen unmittelbaren Interessen eine Grenze zu setzen. Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen.“
Indem er diese weiten Bezüge erarbeitet hat, brachte der argentinische Theologe Jorge Mario Bergoglio die uralte ökologische Utopie des Mönchs Franziskus, dessen Namen er als Papst annahm, auf den Stand des 21. Jahrhunderts.
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