Ist Ernst Jüngers 1939 veröffentlichter Roman „Auf den Marmorklippen“ ein Widerstandsbuch, vielleicht sogar ein Schlüsselroman? Sind die Brüder der Rautenklause als Ernst und Friedrich Jünger zu deuten? Verbirgt sich hinter dem Fürsten Sunmyra der Widerstandskämpfer Adam von Trott zu Solz? Hat Jünger in der Figur des Oberförsters Herrmann Göring oder Adolf Hitler porträtiert?
Das sind Fragen, die nicht nur die Jünger-Forschung, sondern auch die literarische Öffentlichkeit beschäftigen. Und nicht ohne Grund. Eine nazikritische Lesart der „Marmorklippen“ kann Jünger vom immer wieder erhobenen Vorwurf, ein Wegbereiter dieser Ideologie zu sein, exkulpieren. Der Autor hat sich mit Deutungen in dieser Hinsicht zurückgehalten. Wohl war ihm bewusst, dass zeitgenössische Leser Bezüge zwischen dem Roman und der nationalsozialistischen Wirklichkeit herstellen konnten, was sie, wie die Rezeption zeigt, auch taten. Er wollte sich aber, was ein Leichtes gewesen wäre, nicht nachträglich zu einem Widerstandskämpfer stilisieren, der er nicht war.
Nahezu alle Interpretation der „Marmorklippen“ betrachten den Text retrospektiv, das heißt aus dem Blickwinkel von Jüngers Jahren als Besatzungsoffizier in Paris. Dann kann man das Bild eines Offiziers im ästhetischen Widerstand ableiten, der sich der Barbarei zwar nicht aktiv entgegenstellt, sich ihr aber doch auf vielfache Weise entzieht. Eine solche Lesart lässt außer Acht, wie Jünger zu den „Marmorklippen“ kam und welche Gedanken er in den 1930er-Jahren verfolgte. Sicher: Man kann diesen Roman durchaus als Ausgangspunkt des Humanisten Jünger lesen; er ist aber zugleich auch der Endpunkt des nationalistischen Autors. In ihm kulminiert sein politisches Denken, das sich dem Umsturz der bestehenden Ordnung verschrieben hat.
Diese Lesart wird von einer ganzen Reihe von Briefen unterstützt, die jetzt zum ersten Mal in einer Edition erscheinen (Ernst Jünger, Politische Briefe 1929 – 1945. Herausgegeben von Alexander Pschera, in: Jünger-Debatte 8. Frankfurt a.M. 2025). Vor allem einer dieser Briefe aus dem Jahr 1942, adressiert an den fanatischen Nationalsozialisten Meinhard Sild (1918–1944), eröffnet einen völlig neuen Deutungsansatz für die „Marmorklippen“. Meinhard Sild war der Sohn der Ausnahmebergsteigerin Cenci von Ficker und Chefideologe des Deutschen Alpenvereins. Er schrieb über das Bergsteigen markige Sätze wie diesen, dessen Tonalität sich von Jüngers soldatischen Schriften nicht allzu sehr unterscheidet: „Opfer müssen fallen; ihre Zahl ist bedeutungslos. Opfer sind notwendig; diese Einsicht entspringt der Härte der kriegerischen Haltung und verleiht jene Überlegenheit, auf die es ankommt.“
Kontinuität revolutionären Denkens
Gemeinhin geht der Blick auf die Biografie Jüngers davon aus, dass der Autor sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in eine „innere Emigration“ zurückzog, die in den „Marmorklippen“ einen ersten und in der Friedensschrift einen zweiten pazifistischen Höhepunkt findet. Dieser Annahme einer kontinuierlichen Entradikalisierung widersprechen die Briefe dieser Zeit deutlich. Vielmehr zeigt sich die Kontinuität revolutionären Denkens bis in die 1940er-Jahre hinein – eines Denkens, das nicht auf der Wellenlänge der Herrschenden liegt, diese jedoch als ein notwendiges Übel betrachtet, um in eine noch rigorosere Phase der Geschichte einzutreten.
Der „Arbeiter“ ist das politische Fundament von Jüngers Schreiben der 1930er-Jahre. Von diesem aus betrachtet, erscheinen die literarischen Arbeiten dieser Epoche in einem neuen Licht, so die „Afrikanischen Spiele“, die sich nicht mehr ohne weiteres als ein heiterer Jugendroman lesen lassen, sondern als die Erprobung einer neuen Kampfart gedeutet werden müssen, der des Partisanen: „Ich begebe mich hier an meinen anderen Pol, der der totalen Mobilmachung der Massen entgegengesetzt ist, und den ich seiner Gegenfigur, nämlich in der Figur des Partisanen noch schärfer herauszuarbeiten gedenke“ (Brief an Paul Weinreich, 13.9.1936).
Politik und Werk sind bei Jünger in dieser Zeit aufs Engste miteinander verschränkt. Beide definieren sich durch ihr Verhältnis zu dem, was Jünger als „Wirklichkeit“ apostrophiert. Zu dieser revolutionär interpretierten „Wirklichkeit“ gehört auch, den Nationalsozialismus in seiner Rolle zu beschreiben, die er für eine im Sinne des Arbeiters zu verändernde Welt einnimmt. So findet sich in Jüngers Nachlass ein Brief an die Hitler-Jugend Schlesiens vom November 1933, der eine gewidmete Ausgabe der „Stahlgewitter“ begleitet.
Dort liest man: „Der Weltkrieg stellt nur den Beginn der großen Auseinandersetzung dar, in der wir seit 1914 ununterbrochen begriffen sind. Dieses Buch ist daher nicht nur als ein Bericht, sondern vor allem als ein Beitrag zur Rüstung zu lesen“. „Rüstung“ ist ein zentraler Begriff aus dem „Arbeiter“, der über die Bedeutung der militärischen Bewaffnung hinausgeht. Offensichtlich betrachtete Jünger die Jugendorganisation der Nationalsozialisten als ein im Sinne des „Arbeiters“ mobilisierbares Potenzial.
Ähnlich schreibt Jünger am 5.4.1933 an Ludwig Alwens: „Im übrigen habe ich natürlich auch Sympathien (ergänze: für den Nationalsozialismus); dies ist insofern nicht merkwürdig, als ja der Nationalsozialismus selbst eine noch wenig homogene Erscheinung ist.“ Das Wort „natürlich“ betont die unbestreitbare Notwendigkeit, die revolutionären Kräfte als ein noch ungetrenntes Ganzes zu betrachten, aus dem sich die nützlichen Elemente aussondern werden.
Am 12.5.1933 heißt es an Alwens weiter: „Sie werden mir vielleicht darin beistimmen, dass die Zeit für einen Nationalismus in unserem Sinne näher rückt. In der letzten Zeit erscheinen allerlei Leute bei mir, um mich in irgendwelche Oppositionskreise einzubeziehen. Ich lehne das natürlich ab. Unsere Opposition liegt nicht diesseits, sondern jenseits der augenblicklichen Ereignisse. Das Spannende unserer Lage besteht darin, dass wir die Ereignisse an sich begrüßen müssen, nur genügen sie uns noch nicht.“ Und am 2.1.1934 schreibt Jünger an Gerhard Günther: „Für mich besitzt die nationale Demokratie keine größere Anziehungskraft als sie die soziale besaß. Immerhin stellt sie vielleicht das wirksamste Mittel dar, eine Reihe von Dingen, Worten und Menschen zu erledigen, die sich sonst noch lange in ihrer Schein-Existenz erhalten hätten.“
Aspekte des eigenen Ichs
Jüngers Kritik an den Nazis richtet sich nicht gegen ihre Radikalität, sondern gegen ihre Zahnlosigkeit. Er erkennt in ihnen Elemente jener „Schein-Existenz“, die das Merkmal des bürgerlichen Zeitalters sind und die er für sich auf dem „Scheiterhaufen“ des „Abenteuerlichen Herzens“ verbrannt hat. Die Nationalsozialisten sind in Jüngers Augen nichts anderes als letzte Reste einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft und daher noch nicht Teil jener neuen, „sachlichen“, harten Wirklichkeit, von der er träumt.
Daher nimmt es denn auch nicht Wunder, dass Jünger in dem wichtigen, bislang unbekannten Brief an Meinhart Sild vom 7.7.1942 die Vermutung, es könne sich bei den Marmorklippen um einen nazikritischen Schlüsselroman handeln, zurückweist. Sild kritisiert Jünger in seinem Schreiben wegen seiner mangelnden Gefolgschaft für die Idee des Nationalsozialismus. Er wirft ihm Verrat an der Sache vor. Den „Arbeiter“ las Sild als eine ideologische Rüstschrift mit konkreten Handlungsaufforderungen. Er nahm an, Jünger würde es um den Aufbau einer tatbereiten Gefolgschaft gehen. Die „Marmorklippen“ hingegen betrachtete Sild als einen Verrat an der Idee des Nationalsozialismus.
Jünger geht in seinem Schreiben auffallend ausführlich und über mehrere Seiten – allein das ist schon erstaunlich – auf Silds Vorwürfe ein, er habe ihn und seine Freunde weltanschaulich im Stich gelassen. In diesem Zusammenhang kommt er auf die „Marmorklippen“ zu sprechen und versucht seinem Briefpartner klarzumachen, dass der Roman keinerlei Kritik an den bestehenden Verhältnissen enthalte, sondern eine reine Fantasieproduktion sei.
Und dann folgt eine Stelle, die für die Interpretation der „Marmorklippen“ elementar wichtig ist. Die Charaktere des Buches, so Jünger, seien keine epischen Fiktionen, sondern allesamt verschiedene Aspekte seines eigenen Ich: „Insofern möchte ich Ihnen wünschen, dass die Feindschaft, deren Aussicht sie mir aufzeigen, etwas bedenklicher wäre, denn es gibt heute Lorbeeren, die viel gefährlicher zu ernten sind. Bei mir werden Sie sich bestimmt nicht in Gefahr bringen. Aber auch davon abgesehen, müsste der Vorgang insofern einseitig bleiben, als es mir an gleichem Gefühle Ihnen gegenüber ja nicht nur völlig mangelt, sondern ich Ihre Ziele sowohl begrüße als billige. Ich weiß, dass das polemischen Naturen schwer einleuchtet – ebenso wie etwa die Tatsache, dass in meinem von Ihnen besonders missbilligten Buche die handelnden Figuren dem Autor sämtlich sympathisch und im Grunde Aufteilungen seines Willens sind.“
Keine Regimekritik
Jünger ist weit davon entfernt, die „Marmorklippen“ als eine Apotheose des musischen Lebens zu verstehen, die sich einer brutalen Welt der Macht entgegenstellt. Im Gegenteil: Alle Figuren der Erzählung finden in dem, was sie sind und wie sie handeln, seine Zustimmung, auch der „Oberförster“ und seine bestialischen Taten. Alle sind Facetten seiner eigenen Persönlichkeit. Und er, Jünger, „begrüßt und billigt“ Silds politische Ziele, die auf den Sieg der nationalsozialistischen Revolution abzielen. Das sind radikale, überraschende Aussagen. Sie zeigen, dass Jünger 1942 die nationalsozialistische Jugend immer noch als eine nützliche Basis für eine Revolution im Sinne des „Arbeiters“ betrachtet.
Und sie zeigen auch, dass Jünger in den „Marmorklippen“ keine Regimekritik, sondern eine innere Autobiografie verfasst hat, in der er die Wirkkräfte seines eigenen politisch-ästhetischen Willens auf epischem Gelände gegeneinander antreten lässt. Das Brüderpaar erscheint so als die Inkarnation einer dem Untergang geweihten bürgerlichen Welt. Der Oberförster und seine Gefolgschaft hingegen repräsentieren jenen Willen zur Macht, der – wie Jünger – die alte, bourgeoise Welt überwinden will.
So gesehen sind die „Marmorklippen“ sowohl ein Dokument der kritischen Selbstreflexion des Autors als auch Ausdruck einer noch im Jahr 1942 virulenten, allerdings vom Nihilismus bedrohten, politischen Energie des Autors. Nach der Kenntnis dieses Briefes kann man sie jedenfalls nicht mehr umstandslos als einen „Widerstandsroman“ lesen.
Der Publizist und Literaturwissenschaftler Alexander Pschera war bis 2024 Vorsitzender der Jünger-Gesellschaft und ist Mitherausgeber des Jahrbuchs „Jünger-Debatte“.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.