Es kam unerwartet, erschien aber für viele wunderbar. Ein Auftritt – wie der des aus fernem Lande einziehenden Grals- und Schwanenritters Lohengrin: als Heilbringer, nicht für Brabant, aber für Berlin. Christian Thielemann war im Herbst 2022 für den kranken Daniel Barenboim als Stabmeister für dessen neuen, seinen dritten Berliner „Ring des Nibelungen“ an der Staatsoper eingesprungen und hatte nicht nur die Hauptstadt mit seiner souveränen und mit dem Orchester sofort Klick machenden Interpretation in bis heute nachwirkende Wagnerwonnen versetzt.
Plötzlich schien alles so einfach: Auf den gesundheitlich leider nicht länger amtsfähigen Weltstar und Weltbürger Barenboim, der seit 1992 aus der Staatskapelle, einem Klangjuwel, das die DDR-Kulturpolitik aber in der Außenwirkung immer hinter die Dresdner Staatskapelle und das Leipziger Gewandhausorchester platziert hatte, wieder ein viel gefragtes Orchester geformt hatte, müsste doch logischerweise der bekannteste deutsche Dirigent folgen. Berliner zudem, und ein verlässlicher Verwalter von dessen „deutschem“, jedenfalls rotgolden-warmem Klang.
So geschah es auch – ähnlich wundersam. Schon im Herbst 2023 wurde Thielemann, der zwischenzeitlich auch noch eine Asientournee mit der Staatskapelle geleitet hatte, als neuer Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden ausgerufen. Am 1. September 2024 trat er sein Amt an. Na ja, noch nicht so richtig.
Karten für den „Ring“ waren sofort ausverkauft
Denn Christian Thielemann, der im Sommer 2024 als Chef von der Dresdner Staatskapelle geschieden war, nach 13 Amtsjahren wurde der Vertrag nicht verlängert, hatte zwar bisher keinen neuen Posten angenommen, aber frei war er natürlich nicht. Er, der ohnehin relativ wenig dirigiert und sich meist auf ihm vertraute Orte und Orchester konzentriert, hatte bereits Termine bis 2029 im Kalender. Wie das im weit vorausplanenden klassischen Musikbetrieb eben üblich ist.
Während Musiker, Politik, Kritik und Publikum nach den ersten Auftritten in eitler Freude schwelgten, die Karten für den nächsten CT-„Ring“-Zyklus im Herbst 2025 bereits Minuten nach Vorverkaufsstart weg waren, macht er sich nun in der Amtsroutine doch – notgedrungen – rar. Nach den abgezählten Auftritten mit Mendelssohn, Mousa und Schönberg sowie Operettenschlagern der 1920er-Jahre kann man also noch gar nicht sagen, wohin mit der Staatskapelle die Reise geht. Wofür freilich Christian Thielemann am wenigsten kann.
Denn er, der sich an jedem Auftrittsabend über die Maßen verausgabt – mit über die Maßen optimalen Ergebnissen –, hatte durchaus ein paar Termine freigeschaufelt. Aber eben (zu) wenige. So waren es bisher (von der Arbeit hinter den Kulissen, mit Probespielen, Vorsingen, Administration sieht man ja nichts) gerade einmal sechs schöne Thielemann-Konzerte in Berlin; zwei davon sogar als Einspringer. Drei folgen noch. Die ersten und einzigen Opernabende der Spielzeit 2024/25 werden die saisonal späte, gerade noch so ins Programm gezwängte Premiere der lange nicht gespielten, von Thielemann noch nie dirigierten Strauss-Oper „Die schweigsame Frau“ sein (ab 19. Juli mit zwei Folgeterminen).
Dieses Stück wird Christian Thielemann auch in seiner zweiten Spielzeit 2025/26 leiten, fünfmal. Dazu gibt es zwei „Ring“-Serien, dreimal „Rosenkavalier“ und „Wozzeck“ aus dem Repertoire. Neun Berliner Konzerte und dreimal Oper, das ist die Berliner Thielemann-Bilanz diese Saison, 19 Opernabende und zwölf Konzerte werden es dann immerhin in der kommenden Spielzeit sein.
Wie halten es anderswo die Generalmusikdirektoren? Generell sind ihre Abende (und damit auch Anwesenheit) von früher durchschnittlich 40 inzwischen etwas geschrumpft. In München, wo die nächste Saison wegen Bauarbeiten verkürzt ist, steht Vladimir Jurowski 27 Opernabende am Pult, davon bei drei Premieren (eine Uraufführung) und zwei Repertoirewerken. Dazu kommen vier Konzerte plus drei auf Tournee.
Neue Musikchefs in Hamburg und Frankfurt
In Hamburg, wo 2025/26 mit viel Tamtam und Anspruch eine neue, junge Crew startet, dirigiert Omer Meir Wellber 34 Opernabende, davon zwei Premieren und fünf Werke aus dem Repertoire. Im Konzertbereich hat er 19 Auftritte, aber von ganz unterschiedlichem Format; als einziger kümmert er sich auch um „Education“. Er ist der mit Abstand fleißigste und vielseitigste seiner Zunft.
An der Stuttgarter Staatsoper kommt Cornelius Meister in der aktuellen Spielzeit auf magere 22 Opernabende, mit zwei Premieren und zwei Repertoirestücken, dazu kommen sechs Konzerte und ein Open Air. In Frankfurt steht der neue Musikchef Thomas Guggeis gegenwärtig bei drei Premieren und zwei Repertoirestücken 30 Mal am Pult; plus zehn Konzerte, ein Kammerkonzert und ein Venedig-Gastspiel.
International präsentiert sich Philippe Jordan, der im Sommer scheidende Musikdirektor der Wiener Staatsoper (wo es keine Konzerte gibt), mit 31 Opernabenden, verteilt auf zwei Premieren und acht Repertoirewerke. Am Royal Opera House Covent Garden in London, wo man im „Stagione“-System mit nur wenigen Stücken spielt, betreut der neue Musikchef Jakub Hrusa mit zwei Premieren und einer Wiederaufnahme 23 Abende und ein Sonderkonzert. An der New Yorker Metropolitan Opera, einem Haus mit kleinem Repertoire und kürzerer Spielzeit, dirigiert Yannick Nézet-Séguin an 31 Abenden drei Premieren (zwei Uraufführungen) und nur ein Repertoirestück sowie drei Konzerte.
Somit wäre Christian Thielemanns Pultpräsenz in Berlin noch ausbaubar. In Wien, wo er sich den ganzen April aufhält, dirigiert er hingegen vier Philharmoniker-Konzerte sowie sieben Vorstellungen von „Arabella“ und „Lohengrin“. Alte Planungen, gewiss. Doch viel wichtiger ist für Berlin gegenwärtig der symbolische Beistand Thielemanns für die Staatsoper. Da ist augenblicklich mit ihm, dem Orchester und der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka, die durch die Verhältnisse zusammengespannt wurden, alles fein, gut, licht und hell. Die Flitterwochen dauern an, die eigentliche Mühe der musikehelichen Zusammenarbeit hat aber noch nicht wirklich begonnen.
Wird also Christian Thielemann, der manche seiner festen Stellen (Nürnberg, Berlin, Bayreuth, München, Dresden) mit einem gewissen Grollen verlassen hat, künftig zum Kümmerer werden? Zum Elder Statesman und Kulturkämpfer, wie es ihm Barenboim vormachte? Er wäre zu wünschen, zu seinem eigenen wie des Hauses Wohl.
Berlin stehen nach den brutalen Haushaltskürzungen und dem ungeschickten Verhalten des wenig hochkulturaffinen Senators Joe Chialo (der als Bundeskulturbeauftragter gehandelt wird) besonders auch in der Kultur harte Zeiten bevor. Im Augenblick kann man noch von Rücklagen leben. Aber die reichen noch höchstens eine Spielzeit – und weitere Etat-Einschnitte sind schon verfügt.
Da geht es künftig um Solidarität, vor allem auch unter den teuren Opernhäusern. Bisher hat Thielemann seine Stimme im Konzert der anderen Musikgranden Berlins pflichtschuldig erhoben, als der Rotstift im vergangenen Herbst ruchbar wurde. Doch die drei Musiktheater agieren wenig gemeinschaftlich: Die Werkdoubletten und -tripletten steigen wieder an, man jagt sich Künstler ab, spielt fast parallel bei gar nicht vollen Häusern dieselben Titel.
Und bei der aktuellen Spielplankonferenz wollten Thielemann und Sobotka nur auf journalistisches Insistieren hin überhaupt über Geld reden. Sollen solche Gespräche lieber als stille Hinterzimmerpolitik geführt werden? Eine Abkehr von den kürzlich noch lautstarken Protesten?
Kann Thielemann die Opern verbünden?
Christian Thielemann gibt sich gern jovial, badet auch mal in der Menge, aber der 66-Jährige ist ein Vertreter alter Festkultur, die gern das große, bedeutende Repertoire wiederholt, aber zu wenig in die Zukunft blickt. Das ging lange gut, weil Geld da war und Politikerwille. Das wird beides jedoch stetig weniger.
Dafür sitzt man in der Hauptstadt, die sich immer als Kulturmetropole mit sieben Orchestern, zwei Chören, drei Opern, fünf großen Theatern und einem Ballett feierte, sehr auf dem Präsentierteller: auf dem viele den Zusammenhalt der Gesellschaft und ihre Empathie lesen mögen. Würde Thielemann dort mehr mitspielen wollen, als Galionsfigur etablierten Könnens, die Opern miteinander verbünden und mal zu gemeinsamen Spielplanaktionen anhalten – er könnte auf diesem Posten über sich hinauswachsen.
Jetzt stellen sich die Weichen. Denn noch ist man dem Generalmusikdirektor gewogen, seine Amtszeit ein Soft Opening. Doch das könnte bald anders werden. Aber Thielemann hat es im Hirn, in der Hand und im Taktstock.
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