Lebenswelt in der Literatur – was heute viele Buchverlage offensiv vermarkten, war sein Metier, und zu Peter von Matts Hochzeiten eine Ausnahme in der deutschsprachigen akademischen Welt. Denn – war das noch akademisch oder schon populär? – in den Büchern des Schweizer Literaturwissenschaftlers ging es um so süffige Themen wie Liebesverrat („Die Treulosen in der Literatur“). Es ging um Familiendramen („Missratene Söhne, verlorene Töchter“). Und um Intrigen („Theorie und Praxis der Hinterlist“) in der Literatur – und oft ging es auch um die Schweiz, am vielleicht schönsten in seiner Essaysammlung „Das Kalb vor der Gotthardpost“, benannt nach einem berühmten Gemälde von Rudolf Koller, auf dem die Pferde einer ach so gemütlichen Postkutsche durchgehen.
Peter von Matts populärwissenschaftliche Motivstudien begründeten damals ein eigenes Genre der Literaturbetrachtung: das der lebensnah gefassten Guided Tours durch Werke der Weltliteratur. Seine Sampler waren jahrzehntelang Hits im Repertoire des Hanser-Verlags, Hits der 1980er, 1990er und 2000er Jahre, die man jetzt in Heavy Rotation wieder blättern müsste. Eine Zeit lang wusste im deutschen Sprachraum kaum einer besser für Literatur begeistern als Peter von Matt, sogar der Literaturpapst höchstselbst – in Gestalt des legendären Marcel Reich-Ranicki – outete sich als Fan. Und neben „MRR“ und „PvM“ hatte seinerzeit allenfalls Österreich mit Wendelin Schmidt-Dengler (WSD) in Wien noch eine ähnliche Koryphäe der Literaturvermittlung zu bieten.
Von 1976 bis 2002 lehrte Peter von Matt als Ordinarius am Deutschen Seminar der Uni Zürich, und wer je das Vergnügen hatte, ein paar Semester in seinen Vorlesungen und Seminaren zu verbringen, wusste, hier lehrt eine Institution. Es gibt in jedem Studium nur eine Handvoll Professoren, bei denen man schon während der Vorlesung weiß: Das hier ist einzigartig und originell, daran wird man sich auch noch lange nach dem Studium erinnern, ja wahrscheinlich fürs Leben.
Beim Germanist Peter von Matt in Zürich waren die Mittwochs-Vorlesungen ein Ereignis, in das sich Stadtgesellschaft und akademischer Betrieb in einer Weise vermischten, wie es das so vielleicht nur im saturierten Zürich geben konnte. Man musste immer sehr pünktlich sein vor der Aula der Universität, in der schon Churchill seine Rede an die Jugend Europas gehalten hatte. Denn hier standen die vornehmen Witwen vom Zürichberg und solche, die es werden wollten, mit den profanen Studenten Schlange, um nach der Methode Pelzmäntel gegen Anoraks die besten Plätze im Auditorium zu besetzen. Peter von Matt dozierte dann stets geistreich bis anekdotisch, von Dürrenmatt bis Dada, die berühmte Avantgardebewegung, die wenige Gassen unterhalb der Universität, im Cabaret Voltaire, ihren Anfang nahm.
Experte für die Dada-Bewegung
In einer Zeit, in der sich die Literaturwissenschaft, wie alle Geisteswissenschaften im Gefolge der French Theory, in einen jahrzehntelangen Sommer der Theorie begeben und von den eigentlichen Werken oft ziemlich weit entfernt hatte, blieb Peter von Matt erstaunlich nah an den literarischen Texten. Nicht, dass er nicht theoriebeschlagen gewesen wäre – aber Theorie sollte bei ihm nie nur Selbstzweck sein, erzählte er mir, als ich ihn viele Jahre später wiedertraf – er inzwischen Emeritus: „Es gab sicher Leute, die fanden, das sei gar nicht richtige Germanistik, was ich mache. Doch die Kollegen, die die Nase gerümpft haben, haben selber keine Bücher geschrieben“, meinte von Matt zu seinen Erfolgsbüchern.
Natürlich brauche jeder Literaturwissenschaftler methodisches Bewusstsein: Aber: „Terminologie wird nach fünf Jahren ranzig. Und die Methoden sind auch eine Gefahr. Die schützen vor der chaotischen Dimension der Literatur. Die Literatur hat eine subversive und chaotische Dimension. Die radikalen Methodenheinis sind immer schon geschützt. Die sitzen wie in einem Panzer drin, fahren durch die literarische Landschaft und walzen alles nieder, was da kreucht und fleucht und wächst und sprießt. Ihnen kann dann einfach nichts geschehen“, ätzte Peter von Matt bei unserem Gespräch.
Einige Jahre nach dieser Begegnung traf ich Peter von Matt dann noch einmal für ein Interview, zum 100. Jahrestag der Dada-Bewegung. Lautgedichte, Nonsenswörter, simultanes Gebrüll. Dada trieb, wie keine Kunstbewegung vor ihr, Klamauk mit der Sprache. Und Peter von Matt, hatte bei aller Ernsthaftigkeit, mit der er sein Geschäft als Literaturwissenschaftler betrieb, immer auch Witz und Schalk im Nacken.
Nun ist er, wie seine Familie gegenüber der Deutschen Presseagentur und Schweizer Medien melden, im Alter von 87 Jahren gestorben. Weihevolle Nachrufe auf sich selbst hätte er gewiss nicht lesen wollen. „Weh, uns guter Kaspar ist tot“ von Hans Arp sei eines seiner Lieblingsgedichte aus der Dada-Bewegung, bekannte von Matt. Scheinbar ein Klagelied, baue es erst Pathos auf, um es am Schluss zu unterlaufen. Das, so von Matt, sei „echt dada“.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.