Schade, dass Gerard Mortier das nicht mehr erleben konnte. Einem der wichtigsten Musikintellektuellen der Neunziger- und Zweitausenderjahre war niemand so verhasst wie Giacomo Puccini. Wahrscheinlich hat er seine Opern, wenn überhaupt, nur in routiniert-schlechten Repertoireaufführungen erleben müssen. Zum Glück hat sich dieses gehässig-herablassende Denken über den „Verdi des kleinen Mannes“ inzwischen geändert, nicht zuletzt durch die Bemühungen anlässlich seines 100. Todestags im letzten Jahr.

Verdammt zum Erfolg, der sich immer einstellte, wenn seine fünf berühmten Opern gegeben wurden, hat der Betrieb selten Mühe für Puccini aufgewendet. Inzwischen aber sind auch der „Trittico“, „Das Mädchen aus dem goldenen Westen“, ja sogar die als zu operettig flau abgetane „Rondine“ sehr häufig zu sehen. Und es gibt viele bedeutende Dirigenten, die sich für Puccini starkmachen. An ihrer Spitze vielleicht Kirill Petrenko, der jetzt mit den Berliner Philharmonikern nach deren zwölf Jahren Baden-Badener Festspielpräsenz zum Finale und vor dem Rückumzug nach Salzburg (wo dann Wagners „Ring“ ab 2026 ansteht), sein verzücktes Publikum mit einer so traumschön lyrischen wie dramatisch zupackenden „Madama Butterfly“ beglückte.

„Die kleine Frau Schmetterling“ wie sie in alten Übersetzungen noch hieß, die immer noch anrührend tränentreibende Geschichte von der 15-jährigen Geisha, die zum Wohle ihrer sie trotzdem verstoßenden Familie einen amerikanischen Marineoffizier heiratet, von ihm geschwängert und dann verlassen wird, sie wurde in den letzten Jahren von Riccardo Chailly zur Scala-Eröffnung oder in Aix-en-Provence von Daniele Rustioni auf eindrücklichem Niveau dirigiert; auch Antonio Pappano ist ein großer Fan. In diese Pult-Phalanx reiht sich jetzt Petrenko spielend ein. Schließlich hat er ebenfalls schon mit Finesse den „Trittico“ wie die „Tosca“ instrumentalaufpoliert, ist auch kein „Butterfly“-Novize.

Mit Schwung jagt gleich der Anfang davon, die Akkorde kommen rund, strukturiert, rhythmisch präzise. Und im Folgenden ist der Formwille immer zu spüren, obwohl der gewiefte Opernpraktiker Petrenko auch den Sängern Raum zur vokalen Entfaltung lässt. Diese vielschichtige Partitur, deren exotierende Pentatonik nur einen kleinen Teil ausmacht, wird ausgekostet, aber nicht überladen, mühelos gliedern Rubati den Fluss. Petrenko versteht es, stufenlos laut zu drehen, finster aufzubrausen, wenn das wahrlich nicht süßliche Drama es erfordert. So bekommt insbesondere die Cio-Cio-San immer wieder eine ruppige Stärke, eine bestürzende Klarsicht; die sie dann freilich übertüncht durch ihren utopischen Traum vom Eheglück, während sie doch nur an einen weiteren toxischen Mann geraten ist.

Eleonora Buratto ist diese Butterfly. Mit 43 Jahren eine reife Sopranistin auf dem Höhepunkt ihres Könnens, an der Spitze des italienischen Sängerinnenpools. Und trotzdem eine, deren Name gerade allgemein bekannt wird, die eben ihre erste (als Belcanto-Album nicht sonderlich geglückte) Solo-CD veröffentlicht hat. Buratto gibt nie vor, ein naives, junges Ding zu sein, in ihrer Stimme schwingt bittere Erfahrung und herbe Schwere mit. Aber sie kann eben auch süß flöten und die Spitzentöne sanft fluten lassen. Sie hat ein ruhig belebendes Vibrato, schwingt ihre Legatobögen weiträumig aus, besitzt zupackende Kraft für die Klangdramen des zweiten und dritten Aktes.

„Die Schönheit bei Puccini ist nie Selbstzweck, sondern immer Teil seiner Konzeption“, sagt Petrenko. Diesen Satz würde man Jonathan Tetelman gern ins Stammbuch schreiben. Der lässt sein metallisch-strahlendes Stimmmaterial prunken, was gut zu diesem nassforschen Ami passt, der viel zu spät zu denken beginnt. Etwas mehr Nuancierung, auch mehr Piano täten Tetelman gut. Doch in den – momentan ehrlich gemeinten – Liebesschwüren besingt er, der augenblickliche It-Tenor, nicht nur fesch den Puppenaugenliebeszauber seiner Gespielin auf Zeit und verabschiedet sich von seinem Blütenreich, das immer nur Fassade war. Als Paar sind die Buratto und Tetelman, dank opernaffiner Anleitung, hier noch glaubwürdiger als auf ihrer eben herausgebrachten römischen „Tosca“-Einspielung unter Daniel Harding.

Kirschblüten und weitere rosa Floristik zieht sich nicht nur stückangebracht originell durch die Baden-Badener Festspielhausfoyers. Sie sind auch auf der Bühne, meist virtuell. Denn hier herrscht der Italo-Regieroutinier Davide Livermore mit seinem obligatorischen Ausstattungsteam um die Videotruppe D-Wok, die zwei LED-Wände pausenlos bespaßt. Da könnte weniger mehr sein im prasselnden Pixelgewitter dieser künstlichen Welten. Aber wie hier die amerikanische Flagge über fahlen Hochhausansichten von Yokohama zerstäubt, graugetuschte Berge samt Sonnenaufgang einem im Feuer verglühenden Schmetterling weichen, das ist schon eindrücklich zu gucken.

Den ersten Bildrahmen grenzt dabei ein japanisches Holzgerüsthaus ab, hinter dessen Papierwänden sich reizvoll Schattensilhouetten abzeichnen. Die zweite Handlungsebene bildet vorn eine heutig-schäbige Geschäftszeile, an deren Münztelefon der erwachsene Butterfly-Sohn mit seiner Stiefmutter in Amerika telefoniert, um ihr zu erklären, dass er in der Heimat seine Mutter die eigene Vergangenheit sucht. Worauf die Handlung wie die Statisten rückwärtslaufen.

Obwohl der Sohn wie auch die alte Dienerin Suzuki (die junge wird ansprechend von Teresa Iervolino gesungen) immer wieder auftauchen, gibt sich Livermores farbenprächtige, durchaus subtile, mit üppigen Bildwirkungen aufwartende Inszenierung ganz librettokonform. Spannung und Pracht gewinnt sie vor allem durch die Güte ihre Ausführung, wozu auch der zurückhaltend-betroffene Konsul Sharpless des warmstimmigen Baritons Tassis Christoyannis und all die anderen, prägnant besetzten Nebenrollen gehören. Eine zeitlos schöne Tragödie also, wahrhaftig werdend durch die klangvolle Veredelung – so hat diese Baden-Badener „Butterfly“ wirkliches Festspielniveau.

Noch einmal szenisch in Baden-Baden am 20. April, konzertant in Berlin am 25. und 27. April

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