Wenn bei einem Einsatz ein Messer vermutet wird, setzen Polizeibeamte oft Schusswaffen ein - zum Teil tödlich, wie zuletzt in Oldenburg. Es sollten auch andere Einsatzszenarien trainiert werden, sagt Polizeiwissenschaflter Rafael Behr.
tagesschau24: Was ist aus Ihrer Sicht ungewöhnlich an dem Vorfall in Oldenburg?
Rafael Behr: Ungewöhnlich ist zunächst einmal die wenig präzise Beschreibung des Tathergangs im Moment der Schussabgabe. Alles andere wird relativ detailliert beschrieben. Aber wie es dann tatsächlich zu der Begegnung kam zwischen dem Opfer und dem Polizeibeamten und warum diese drei Schüsse von hinten gesetzt wurden, das bleibt abzuwarten.
Ich hoffe sehr, dass es hier noch objektive Beweismittel gibt, Kameras, Handy- und Smartphone-Bilder, um das aufzuklären.

"Viele andere Szenarien sind denkbar"
tagesschau24: Es stellt sich generell die Frage: Wie werden Polizeianwärterinnen und -anwärter in ihrer Ausbildung auf den Umgang mit eskalierenden Situationen wie in Oldenburg vorbereitet? Insbesondere mit Blick auf Deeskalation und den Einsatz von Schusswaffen, wie läuft das ab?
Behr: Das ist ja der Anwendungsfall "Messer". Und bei Messern oder gefährlichen Gegenständen läuft ein Worst-Case-Szenario, das davon ausgeht, dass der Beamte, die Beamtin unmittelbar angegriffen wird und in den Nahraum eindringt. Und dann wird trainiert, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.
Was ich beklage, ist, dass die vielen anderen Szenarien, die auch denkbar sind, nicht so intensiv trainiert werden. Sondern immer nur dieses Worst-Case-Szenario: Der Mensch kommt mit Tötungsabsicht auf dich zu und es nutzt nichts anderes als die Schusswaffe. Da ist noch viel Luft nach oben, um die Diagnosefähigkeit und die Einsatzbewältigung zu verbessern.
"Dann hilft auch der Taser nichts"
tagesschau24: Welche anderen Szenarien, deren Training Sie vermissen, schweben Ihnen vor?
Behr: Ich vermisse zum Beispiel, dass die Polizei nicht mit anderen Mitteln ausgestattet wird als mit tödlichen. Das betrifft unter anderem auch den Taser, der ja immer als Ersatz für die Waffe eingesetzt wird. Das ist er nicht.
Der Taser hilft immer dann, wenn die Schusswaffe sowieso nicht eingesetzt werden dürfte. Und wenn es solche Szenarien wie Schusswaffennähe gibt, dann hilft auch der Taser nichts.
Distanzmittel zum Beispiel. Andere Möglichkeiten, jemanden physisch sehr schnell zur Ruhe zu bringen, ohne ihn zu töten, fehlen sowohl in der Forschung als auch in der Anwendung in der Polizei. Und das wundert mich doch sehr.
"Die Not der Menschen steht nicht im Mittelpunkt"
tagesschau24: Wird der Umgang mit psychisch Kranken geübt?
Behr: Er wird geübt, meines Erachtens viel zu wenig, vor allen Dingen viel zu wenig praktisch. Er wird vermittelt, aber nicht trainiert.
Im Mittelpunkt dieser Einsatzbewältigung steht immer die Gefahr des Messers oder des spitzen Gegenstandes. Die Gefahr steht im Mittelpunkt und nicht die Not der Menschen. Und hier wäre noch viel Spiel, zum Beispiel Polizeibeamte speziell zu trainieren und intensiv auf solche Dinge vorzubereiten, dass sie zum Beispiel in solchen Einsätzen exakter, besser und angemessener mit solchen Personen umgehen können.
Im Übrigen muss ich aber auch sagen: Psychische Ausnahmesituation heißt ja nicht Friedfertigkeit. Es gibt natürlich auch die Fälle, in denen Menschen in psychotischen Zuständen um sich schlagen, um sich treten, auf andere losgehen, in einem Furor sind. Das heißt nicht, dass man mit psychisch auffälligen Patienten immer nur friedfertig umgehen kann.
"Rassistische Motive bei Kontrollen weit verbreitet"
tagesschau24: Nun gibt es ja Studien und Berichte, zum Beispiel der NaDiRa-Monitoringbericht 2025 oder der vom IAQ, dem Institut für Arbeit und Qualifikation von der Uni in Essen, die nahelegen, dass rassistische Vorstellungen in deutschen Behörden weitverbreitet sind. Spielt dieses Wissen bei der Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten eine Rolle oder wird das ignoriert?
Behr: Mittlerweile spielt es tatsächlich eine Rolle, weil die Kritik doch sehr umfassend geworden ist. Und das prallt an der Polizei nicht ab.
Ich würde in diesem Anwendungsfall Messer im Spiel sogar aus meiner Erfahrung sagen, dass hier rassistische Motive nicht handlungsleitend sind. In vielen anderen Fällen schon. Bei Kontrollen zum Beispiel kann man das durchaus unterstellen. Und es sind keine Einzelfälle. Das ist schon relativ weitverbreitet.
Aber ob aus rassistischen Haltungen auch diskriminierende Handlungen werden, ist immer noch eine andere Frage. Jetzt konkret im Anwendungsfall Messer oder Angriff auf Polizeibeamte spielt die Hautfarbe nach meiner Erfahrung keine Rolle, sondern die Gefahr durch den Angriffsgegenstand.
tageschau24: Und wenn wir das Messer mal weglassen?
Behr: Es kann durchaus sein, dass unterschiedliche Behandlungen stattfinden. Ich sagte bereits, dass wir durchaus wissen, dass diskriminierende Kontrolltätigkeiten der Polizisten stattfinden. Und hier spielen tatsächlich auch rassistische oder rassifizierende Haltungen eine Rolle.
Wir wissen allerdings nicht, in welchem Umfang. Und hier helfen auch keine Online-Umfragen oder Aussagen von Gewerkschaftsfunktionären weiter. Wir wissen es einfach nicht, wann rassistische Haltungen aktiviert werden.
"Die Not der Polizisten thematisiert"
tagesschau24: Wäre es nicht Zeit, das herauszufinden?
Behr: Ja, das wäre es. Aber wir haben aus der Vergangenheit gelernt, dass alle Anfragen für Untersuchungen und Forschungen, die genau diesen Punkt thematisieren, radikal und kategorisch abgewehrt werden. Es wird dann immer umgelenkt auf Belastungen der Polizeibeamten.
Das haben wir bei der letzten großen bundesweiten Studie gemerkt, dass man hier einfach eine Aspektumkehr vornimmt und die Not der Polizisten thematisiert. Und nicht die Not der Bürger, die von Polizisten diskriminierend behandelt werden.
"Nicht aufbegehren und Kritik aufsparen"
tagesschau24: Was raten Sie denn jungen Männern, zum Beispiel mit dunkler Hautfarbe oder die als fremd wahrgenommen werden, die in eine Polizeikontrolle geraten - müssen die vorsichtiger sein als Weiße in ihrem Alter? Und ich meine das jetzt wirklich realistisch betrachtet. Wir haben ja über die Studien gesprochen.
Behr: Tatsächlich müssen sie vorsichtig in ihrem Emotionsmanagement sein, weil sie natürlich merken, dass sie öfter als andere kontrolliert werden. Das sagen im Übrigen auch Polizisten mit Migrationsgeschichte in der Polizei. Dass sie in ihrer Freizeit oder bevor sie bei der Polizei waren öfter kontrolliert werden und anders behandelt werden als andere.
Hier kann man nur raten, sehr schnell eine konsensuelle Verständigung herzustellen, also nicht aufzubegehren und sich die Kritik aufzusparen für die Zeit, in der es dann nicht zu einer unmittelbaren Konfrontation kommt. Denn sehr schnell ist man in solchen Kontrollsituationen des Widerstands beklagt und dann hat man die schlechteren Karten.
Das Gespräch führte Michail Paweletz. Es wurde für die schriftliche Version redigiert.
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