Zivile KZ-Angestellte wie die Stutthof-Sekretärin Irmgard Furchner wurden lange Zeit nicht als Täter in der NS-Aufarbeitung berücksichtigt. Doch sie haben entscheidend zur Aufrechterhaltung des KZ-Systems beigetragen.

Achtzig Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus längst nicht abgeschlossen. Noch immer gibt es blinde Flecken in der Geschichte, die von der Forschung lange vernachlässigt wurden, sagt der international anerkannte NS-Experte und Gutachter Stefan Hördler von der Universität Göttingen.

Er spielt dabei auf die Rolle ziviler Angestellter im System der Konzentrationslager an. Erstmals prominent ins öffentliche Bewusstsein rückte diese Tätergruppe mit dem Prozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard Furchner, die zwischen 1943 und 1945 für den Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof arbeitete.

Furchner wurde 2022 wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen vom Landgericht Itzehoe verurteilt. Das Strafmaß: Zwei Jahre Haft auf Bewährung. Stefan Hördler war der historische Sachverständige in diesem Prozess.

2024 bestätigte der Bundesgerichtshof in Leipzig dieses Urteil. Furchner war damals 99 Jahre alt. Anfang dieses Jahres ist sie verstorben.

Nicht nur SS-Angehörige waren Täter

Bemerkenswert am Prozess gegen Irmgard Furchner war die Tatsache, dass erstmals zivile Angestellte, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, in den Mittelpunkt rückten. Nach Ende des Krieges waren diese Menschen gar nicht im Fokus der juristischen Verfolgung. Es wurde vor allem ein Augenmerk auf die Führungselite des Systems gelegt. Menschen, die ganz offensichtlich während der NS-Zeit Verbrechen angeordnet, begangen oder organisiert hatten. Akten, Registrierungen und Zeugenaussagen machten ihre Identifikation leichter.

Furchner war nicht Mitglied der NSDAP. Sie erteilte keine Befehle, sie gab keine Schüsse ab. Aber sie wusste, was im Konzentrationslager Stutthof passierte. Sie kannte die Bedingungen im Lager, wusste von den Lebensumständen der Häftlinge.

Als Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe ging der gesamte Schriftverkehr, der das Lager betraf, durch ihre Hände. Bestellungen für Zyklon B gingen über ihren Tisch. Sie tippte die Listen mit Häftlingsnamen, die an das KZ Auschwitz überstellt wurden. "Sie saß im Schaltzentrum eines Mordapparates. Da kann man nicht sagen: Ich habe nur geschrieben", sagt Stefan Hördler.

Hinzu komme, dass zivile Angestellte die Möglichkeit gehabt hätten, wieder zu kündigen, so Hördler. Sie waren Angestellte im öffentlichen Dienst, mit Probezeiten und gewöhnlichen Kündigungsfristen. Die damals 18-jährige Irmgard Dirksen, später Furchner, entschied aber zu bleiben.

Arbeitsteiligkeit ermöglichte das KZ-System

Laut Hördler steht Irmgard Furchner stellvertretend für eine Gruppe von mindestens 3.000 Menschen, die als zivile Angestellte durch ihre Tätigkeit das System der Konzentrationslager am Laufen gehalten haben. Dieses System sei von Arbeitsteiligkeit geprägt gewesen, ohne die der Massenmord in den Konzentrationslagern nicht hätte stattfinden können, erklärt Hördler.

Sowohl innerhalb der SS gab es diese Arbeitsteiligkeit: Zum Beispiel das Umstellen von Zügen nach der Ankunft im KZ oder die Verwaltung und der Raub des Eigentums getöteter Menschen. Hinzu kommt die Mitarbeit der Menschen ohne Uniform: Sekretärinnen, Ingenieuren, Bauunternehmern oder Angestellten, die in der Verwaltung tätig waren. Menschen, die die Infrastruktur, die Abläufe, das Funktionieren des Systems sicherstellten.

Im ARD-Podcast "NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern" äußert sich Stefan Hördler erstmals öffentlich zum Fall von Irmgard Furchner. Er schildert, wie sie in diese Stellung gekommen ist und macht deutlich, welche Rolle sie in den Abläufen des KZ-Stutthof spielte.

Der Experte betrachtet zusammen mit der Historikerin Janine Funke auch weitere Biografien von Menschen, die trotz ihrer Bedeutung keine große Relevanz in der Öffentlichkeit gespielt haben. Biografien wie die von Richard Reckmann, dessen Gleisbaufirma die sogenannte Rampe von Auschwitz baute, also die Gleise hinein ins KZ Auschwitz-Birkenau, die zum Symbol für den Holocaust wurden. Reckmann profitierte nicht nur von den Aufträgen der SS, sondern auch von der Zwangsarbeit durch Häftlinge. Auch seine Arbeit machte den Massenmord möglich.

Versäumnis der Aufarbeitung jetzt nachholen

In den 1950er- und 1960er-Jahren hätte die Möglichkeit bestanden, viele dieser zivilen Angestellten für ihre Arbeit im KZ-System zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Gegenstand der Untersuchungen gewesen wären. Heute ist die Generation der Täter und Zeitzeugen so gut wie nicht mehr vorhanden. Mit Irmgard Furchner ist vermutlich die letzte zivile Angestellte verstorben, deren NS-Vergangenheit in einem Gerichtsprozess aufgearbeitet wurde.

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, diese Täterbiografien in den Fokus der Forschung zu rücken. "Die Erklärung der Geschichte des Nationalsozialismus, die Geschichte der Gewalt und des Massenmords, ist keine Geschichte von Schwarz und Weiß, die ganz klar zwischen Massenmord auf der einen Seite und vermeintlichen Widerstand auf der anderen unterscheidet. Die Übergänge sind fließend", sagt Hördler.

Daher sei es wichtig, NS-Täterschaft genau zu betrachten. Nur so könne das Funktionieren des Gewaltraums verstanden werden. Erst dann seien wir in der Lage, die gesamtgesellschaftliche Dimension, die Anknüpfungspunkte zu Wirtschaft und Gesellschaft im Nationalsozialismus zu verstehen und die Frage beantworten können, warum dieses KZ-System bis zum letzten Tag bestehen konnte.

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